30.05.2014

Der patente Vater der Kettenreaktion

Vor 50 Jahren starb der vielseitige ungarisch-amerikanische Physiker Leo Szilard.

An einem grauen Oktobermorgen 1933 spazierte der aus Nazideutschland geflüchtete Leo Szilard tief in Gedanken durch die Straßen Londons. Wenige Wochen zuvor hatte der Nobelpreisträger Ernest Rutherford berichtet, es sei ihm gelungen, Lithium mithilfe eines Protons zu spalten. Aber er hatte hinzugefügt, jeder, der meine, man könne auf diese Weise Energie gewinnen, rede Unsinn. Szilard bezweifelte das. Während er darauf wartete, die belebte Southampton Row zu überqueren, kam ihm ein Geistesblitz als die Ampel umschlug: Wenn man Neutronen statt Protonen nähme und diese bei der Spaltung des Atoms weitere Neutronen freisetzten, könnte man eine Kettenreaktion in Gang setzen. Er arbeitete diese Idee zu einem Patent aus. Da ihm die Bedeutung seiner Idee für den Bau einer atomaren Waffe bewusst war, übereignete er es 1936 der Britischen Admiralität. So blieb es geheim.

Szilard, geboren 1898 in Budapest als Spross einer wohlhabenden jüdischen Familie, besaß ein feines Gespür für politische Entwicklungen. 1916 hatte er ein Ingenieurstudium an der Technischen Universität in Budapest begonnen, das er 1917 wegen des Kriegs unterbrechen musste. 1920 verließ er seine Heimat, um der antisemitischen Horthy-Regierung zu entkommen. Er setzte sein Studium zunächst an der Technischen Hochschule in Berlin fort, wechselte aber bald zur Friedrich Wilhelms Universität, um Physik bei Albert Einstein, Max Planck und Max von Laue zu studieren. Schon ein Jahr später löste er ein schwieriges Problem aus der Thermodynamik, das von Laue als Doktorarbeit anerkannte. In dieser von Einstein hoch gelobten Arbeit legte Szilard die Grundlagen für die heutige Informationstheorie.

1924, nach einem Zwischenspiel am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, wo er über Röntgenstreuung und -Reflexion arbeitete, wurde er von Laues Assistent am Institut für Theoretische Physik. Er war ein äußerst erfinderischer und kreativer Kopf und reichte mehrere Patente ein, darunter eines für einen Linearbeschleuniger (1928), ein Zyklotron (1929) und für ein Elektronenmikroskop (1931). 1926 begann er auch eine Zusammenarbeit mit Albert Einstein zu einem kompressorlosen Kühlsystem. Ihr drittes Patent, das auf einer elektromagnetischen Pumpe beruhte, kaufte die AEG. Zwar ging das Gerät nie in Serie, aber die Einstein-Szilard-Pumpe wurde 1942 in den USA beim Bau des Atomreaktors verwendet.

Im März 1933 floh Szilard vor dem NS-Regime nach London. Nachdem er die Möglichkeit einer Kettenreaktion erkannt hatte, begann er mit T. A. Chalmers in der Strahlenabteilung des St. Bartholomew’s Hospital nach geeigneten Elementen zu suchen. Er versuchte es zunächst mit Beryllium, später mit Indium. Zusammen mit Chalmers entwickelte er auch eine Methode zur Abtrennung künstlich erzeugter radioaktiver Isotope (Szilard-Chalmers-Effekt).

Der Weg zur Atombombe
Den kommenden Krieg in Europa vorausahnend, entschied sich Szilard im September 1938 während einer Vortragsreise in den USA, seinen Wohnsitz nach New York zu verlegen. Anfang 1939 erfuhr er von der Uranspaltung durch Otto Hahn und Fritz Strassmann und wusste, er hatte das gesuchte Element für eine Kettenreaktion gefunden. Bald darauf konnte er nachweisen, dass bei der Spaltung Neutronen entstanden. Zusammen mit Enrico Fermi und Herbert Anderson arbeitete er die Idee einer sich selbst erhaltenden Kettenreaktion in einem System aus Wasser und Uranoxid aus. Wenig später entwickelte er ein weiteres System, das Grafit als Moderator verwendete. Weil er besorgt war, dass Nazi-Deutschland die Atombombe zuerst bauen könnte, überredete er im Sommer 1939 Einstein, einen Brief an Präsident Roosevelt zu unterschreiben. Dieser Brief wird häufig als Initialzündung für das amerikanische Atombombenprojekt angesehen.

Leo Szilard (1898–1964) mit Albert Einstein. (Foto: Federation of American Scientists)


1942 zogen Fermi und Szilard an die University of Chicago um, wo sie im „Metallurgical Laboratory“ einen mit reinem Grafit moderierten Reaktor bauten und darin im Dezember 1942 die erste kontrollierte Kettenreaktion erzielten. Zu dieser Zeit erklärte General Groves, Leiter des frisch ins Leben gerufenen Manhattan-Projekts, den eigenwilligen Ungarn als „schädlich“ und verlangte, ihn bis zum Kriegsende zu internieren – jedoch ohne Konsequenzen.

Nach der Kapitulation Deutschlands wurde Szilard zu einem der entschiedensten Gegner des militärischen Einsatzes der Atombombe gegen Japan. Er war einer der Ko-Autoren des Franck-Reports und Urheber einer von 68 Wissenschaftlern unterzeichneten Petition, die sich aus moralischen Gründen gegen den Einsatz der Bombe wandte. Auch in der Nachkriegszeit setzte sich Szilard entschieden gegen das atomare Wettrüsten und den Bau der Wasserstoffbombe ein. Er ist einer der Begründer der Pugwash-Konferenzen, auf denen Forscher über atomare Abrüstung berieten. Auf Szilard geht der Vorschlag einer direkten Telefonverbindung zwischen dem amerikanischen und sowjetischen Präsidenten zurück. Seine Versuche, den Dialog mit Nikita Chruschtschow anzubahnen, gipfelten im Oktober 1960 in einem persönlichen Treffen beim Besuch des sowjetischen Staatschefs in New York.

Biophysik und Science Fiction
In der Atom- und Kernphysik konnte und wollte Szilard nach dem Krieg nicht mehr arbeiten. Er wandte sich der Biophysik zu und besuchte 1947 die von dem Physiker Max Delbrück organisierte Cold Spring Harbor Konferenz über Bakteriophagen. Er erfand den „Thermostat“, eine Apparatur zur kontinuierlichen Herstellung von Bakterienkulturen unter kontrollierten Bedingungen. Ab 1949 traf er sich mit den damals führenden Genetikern und Molekularbiologen Alfred Hershey, Joshua Lederberg, Salvador Luria und James Watson monatlich in der „Midwestern Phage Group“. 1959 publizierte er eine Theorie des Alterns.

Als er 1960 im Alter von 62 Jahren mit der Diagnose „Blasenkrebs“ konfrontiert wurde, unterzog er sich einer von ihm selbst entworfenen Strahlentherapie und wurde geheilt. Ein Jahr später publizierte Szilard, der zeitlebens ein Fan von H.G. Wells war, eigene Science Fiction-Geschichten unter dem Titel „Die Stimme der Delphine“. In der titelgebenden Geschichte berichten Delphine über das Debakel der menschlichen Gesellschaft, das sie zu Erben der Erde gemacht hat.

Szilard starb vor 50 Jahren am 30. Mai 1964 an einem Herzinfarkt, den er im Schlaf erlitt. „Er war sehr großzügig mit seinen Ideen. Extrem großzügig. Wir sagten immer, dass nicht lange, nachdem Szilard ein Labor besucht hatte, es dort eine Serie von Entdeckungen geben würde, die auf den Ideen basierte, die er dort hinterlassen hatte“, sagte sein Kollege Aaron Novick, mit dem Szilard ab 1947 im molekularbiologischen Labor der Universität Chicago zusammen arbeitete.

Anne Hardy

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