Die Physiker und der Große Krieg
Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Wie verhielten sich die Physiker und welche Folgen hatte der Krieg langfristig auf die physikalische Forschung?
„Ich denke mir, es muss doch noch ein ganz anderes, stolzes Gefühl sein, als wissenschaftliche Entdeckungen zu machen, wenn man durch einen kühnen Ritt der Armee einen Dienst leistet“, das schrieb niemand anderes als Max Born im November 1914. Auch ihn hatte die allgemeine Kriegsbegeisterung erfasst, als Deutschland am 1. August 1914 Russland den Krieg erklärte. Das Physik Journal widmet sich in einem Themenschwerpunkt der Rolle der Physik im Ersten Weltkrieg. Die drei Beiträge des Themenschwerpunkts sind nun frei online zugänglich.
„Der erste Krieg, an dem sich alle Industrienationen beteiligten, mobilisierte die Naturwissenschaftler im nationalen Maßstab“, schreibt der australische Wissenschaftshistoriker Roy MacLeod im Meinungsbeitrag. Albert Einstein gehörte zu den wenigen, die sich vehement gegen den Krieg aussprachen. Viele Wissenschaftler zogen dagegen bereitwillig in den Krieg oder engagierten sich in der militärischen Forschung. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich der Chemiker Fritz Haber, der sich maßgeblich für die Entwicklung und den Einsatz chemischer Kampfstoffe einsetzte.
Doch während der „Krieg der Chemiker“ weithin bekannt ist, weiß man immer noch recht wenig darüber, wie sich die Physiker verhielten und welchen Einfluss der Erste Weltkrieg auf die Forschung, technische Anwendungen und Karrieren in der Physik ausübte. Dem heutigen Wissen und den offenen Fragen dazu widmet sich der Wissenschaftshistoriker Arne Schirrmacher von der Humboldt-Universität Berlin. Er zeigt an den Beispielen Max Born und seinem Göttinger Mathematikerkollegen Richard Courant, wie es jungen Naturwissenschaftlern im Ersten Weltkrieg erging.
Der 31-jährige Born, der wegen Asthmas untauglich für den Einsatz an der Front war, meldete sich bei den Funkern zum Heeresdienst. Der sechs Jahre jüngere Courant wurde am 8. August eingezogen und geriet sehr bald in immer verlustreichere Kämpfe. Im September 1916 verletzten ihn zwei britische Gewehrkugeln lebensgefährlich. Wieder genesen, begann er sich mit Erdtelegraphie zu beschäftigen. Indem er sich auf Apparateherstellung und Schulung daran verlegte, gelang es ihm, nicht nur sich selbst, sondern auch andere Wissenschaftler von der Front wegzuholen.
Max Born beendete seinen Kasernendienst bei den Funkern, als Richard Ladenburg ihn aufforderte, sich seiner Forschungsgruppe anzuschließen, die sich mit der Schallortung gegnerischer Geschütze beschäftigte. Diese Aufgabe erlaubte es Born, auch wieder am normalen wissenschaftlichen Leben in Berlin teilzunehmen. An die Front musste er sich nur für einige Inspektionsreisen begeben.
Walther Nernst mit seiner Frau Emma während des Ersten Weltkriegs
Der Physikochemiker Walther Nernst, der sich nicht zuletzt durch die Entdeckung des dritten Hauptsatzes der Thermodynamik einen Namen gemacht hatte, war zu Kriegsbeginn bereits 50 Jahre alt. Obwohl er 1885 als „untauglich befunden“ worden und 1909 „aus jedem Militärverhältnis ausgeschieden“ war, meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst. Da er zu den frühen Automobilbesitzern gehörte, erlebte er die ersten Kriegsmonate als Meldefahrer an der Front, unter anderem bei der ersten Marne-Schlacht. 1915 wurde er zum Minenwerfer-Bataillon abkommandiert und befasste sich mit der Entwicklung von Minenwerfern für die chemische Kriegsführung. Der Nernst-Biograph Hans-Georg Bartel, von Hause aus selbst Physikochemiker, zeichnet in seinem Artikel die militärische Laufbahn von Walther Nernst detailliert nach und zeigt differenziert, wie dieser im Spannungsfeld zwischen Kriegsforschung und Friedensbemühungen agierte.
Nernsts Name findet sich wie der von Max Planck und Wilhelm Wien und 90 anderen Unterzeichnenden unter dem Aufruf „An die Kulturwelt“ vom Oktober 1914. Dieser wandte sich gegen die Vorwürfe, Deutschland habe den Krieg verschuldet und die Neutralität Belgiens und das Völkerrecht verletzt. Doch Nernst setzte sich ab 1915 auch aktiv für Friedensverhandlungen ein. Seinen Bemühungen war jedoch kein Erfolg beschieden. Der Krieg traf ihn persönlich sehr schwer, denn seine beiden Söhne fielen in Belgien bzw. Frankreich.
Der Erste Weltkrieg bedeutete den Tod von rund einem Fünftel der deutschen Physiker, mit vermutlich ebenso weitreichenden wie schwer abzuschätzenden Folgen für die weitere Entwicklung der Physik. Zu den Kriegstoten zählen auch der theoretische Physiker Fritz Hasenöhrl, der Nachfolger von Ludwig Boltzmann in Wien, und der Astronom Karl Schwarzschild.
Neben den individuellen Schicksalen beeinflusste der Erste Weltkrieg auch die Wissenschaftswelt. Gelehrte Gesellschaften schlossen „verfeindete“ Mitglieder aus, neue Institutionen entstanden wie die „Kaiser-Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft“, und viele Wissenschaftler warfen ihr Bekenntnis zur Internationalität über Bord. Wenn es darum geht, den Einfluss des Ersten Weltkriegs auf die Entwicklung von Institutionen, Einzelkarrieren oder Forschungsrichtungen in der Physik zu beurteilen, fehlt es auch heute noch an gesicherten Erkenntnissen. „Antworten lassen sich aus den Erinnerungen der Wissenschaftler kaum entnehmen“, betont Schirrmacher. Dafür sei es neben entsprechenden physikhistorischen Forschungsvorhaben nötig, die Zusammenarbeit zwischen wissenschafts-und militärhistorischer Forschung zu verbessern.
Alexander Pawlak