Doppelstruktur in Glas enthüllt
PETRA-III findet Bindeglied zwischen mechanischen und Struktureigenschaften.
Seit mehr als 5000 Jahren nutzen und produzieren Menschen Glas. Trotz seiner langen Tradition und der großen Verbreitung als Werkstoff ist jedoch erstaunlich wenig über das Zusammenspiel von mechanischen Eigenschaften und der inneren Struktur von Glas bekannt. Erstmals haben nun Forscher der Universität Amsterdam und von DESY winzige Strukturänderungen in einem Glas aus Siliziumkügelchen beobachtet, die von einer Scherspannung verursacht werden. Strukturunterschiede von nur drei Prozent gehen demnach mit einer Veränderung der Viskosität um das 10.000-fache einher. Mit einem einzigartigen Experimentieraufbau an der DESY-Röntgenquelle PETRA-III entdeckten die Forscher eine Doppelstruktur im Glas, die mit dem Fließverhalten eng verknüpft ist.
Abb.: Röntgenstreubild von kolloidalem Glas. (Bild: D. Denisov, U. Amsterdam)
Für die Studie stellten Dmitry Denisov von der Universität Amsterdam und seine Kollegen ein Glas aus winzigen Siliziumdioxid-Kügelchen her, die nur einen 50-millionstel Millimeter Durchmesser haben und als Suspension mit Wasser gemischt werden. Ähnlich wie Fettpartikel in Milch verteilen sich die Kügelchen gleichmäßig im Wasser und bilden ein Kolloid. Wenn die Kügelchen mehr als 58 Prozent des Gesamtvolumens einnehmen, friert die Bewegung dieser Dispersion ein und das Kolloid geht in die Glasphase über. „Unsere Siliziumdioxid-Perlen haben alle in etwa denselben Durchmesser, so lässt sich das Glas mathematisch relativ einfach beschreiben“, erläutert Denisov. „Daher ist unser System ein guter Ausgangspunkt, um komplexere Systeme mit einem Flüssig-Glas-Übergang zu modellieren.“
Die Forscher untersuchten insbesondere das Phänomen der Scherbänder. Diese entstehen, wenn das Glas einer Scherkraft ausgesetzt wird, sodass sich seine horizontalen Schichten gegeneinander bewegen. „Scherbänder kennt man seit langem. Die verschiedenen Bänder lassen sich im Mikroskop beobachten, und mechanische Messungen zeigen, dass in der Probe etwas vor sich geht“, sagt Denisov. „Als wir jedoch die Wechselwirkungen zwischen den Partikeln in den verschiedenen Bändern untersucht haben, sahen sie gleich aus. Tatsächlich sind die strukturellen Unterschiede zwischen diesen beiden Bändern so klein, dass viele sie zunächst für gar nicht existent hielten.“ Um das Gegenteil zu beweisen, bediente sich die Forschergruppe einer empfindlicheren Methode.
Abb.: Scherbänder wie sie im Konfokalmikroskop erscheinen. Die unterschiedlichen Farben entsprechen den Partikelgeschwindigkeiten. Unter Scherspannung bewegen sich die Partikel im oberen Band schneller als im unteren. (Bild: P. Schall, U. Amsterdam)
An der PETRA-Messstation P10 spannten die Wissenschaftler ihre Probe zwischen zwei horizontale Platten. Eine dieser Platten stand fest, während die andere gedreht wurde, um in der Probe eine Scherspannung zu erzeugen. Mit diesem Rheometer verfolgten die Forscher die mechanische Reaktion des Glases auf die Scherspannung, insbesondere Änderungen in der Viskosität. Zugleich durchleuchteten sie mit dem intensiven Röntgenstrahl die innere Struktur der Probe. „Als wir die Scherrate in unserem Experiment veränderten, konnten wir sehen, wie der mittlere Abstand der Siliziumdioxid-Kügelchen in dem Glas schwankte“, berichtet DESY-Wissenschaftler Bernd Struth.
Die Forscher beobachteten erstmals, dass die Scherspannung in dem kolloidalen Glas zu einer größeren strukturellen Ordnung und einem größeren vertikalen Abstand der Partikel führt. Dadurch gleiten die Lagen der Suspension leichter übereinander, und es entsteht ein Scherfluss. Zunächst nahm die Scherspannung in der Probe erwartungsgemäß mit der Scherrate zu. „Oberhalb einer bestimmten Scherrate ändert sich die mechanische Reaktion des Glases jedoch nicht mehr“, erzählt Struth. „Wenn wir die Scherrate weiter erhöhen, bleibt die Scherspannung konstant, bis wir eine zweite charakteristische Scherrate erreichen, oberhalb derer die Spannung wieder zunimmt.“
Die Erklärung für die Region konstanter Scherspannung liefern die Scherbänder. „In dieser Region existiert eine Doppelstruktur aus zwei Bändern mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Viskositäten“, erläutert Denisov. „Die Bänder verändern sich zwar dynamisch mit der Scherrate, aber wenn wir die Scherspannung in der Probe über beide Bänder gemittelt messen, bleibt die Spannung konstant.“
Mit ihrem Experiment konnten die Forscher nachweisen, dass kleine Strukturänderungen im Kolloid-Glas große Auswirkungen auf sein Fließverhalten haben. So war das Glas bei der kleinsten Scherrate in dem Experiment 10.000 Mal viskoser als bei der größten Scherrate. Dagegen betrug die Strukturänderung über dieselbe Region weniger als drei Prozent. „Kleine Änderungen in der mikroskopischen Glasstruktur entsprechen großen Änderungen der makroskopischen mechanischen Eigenschaften“, fasst Denisov zusammen.
Angesichts der Vielfalt von Systemen mit einem Flüssig-Glas-Übergang und dem weitverbreiteten Gebrauch von Glas ist der Einblick in die enge Verknüpfung von Struktur und Fließverhalten von Gläsern von großem Interesse.
DESY / AH