Dynamisch ins Dunkel
Stärkere Integration europäischer Stromnetze zwingt zur Berücksichtigung dynamisch induzierter Ausfall-Kaskaden.
Das zuverlässige Funktionieren technischer Infrastruktur-<wbr>Netzwerke ist für unsere moderne, hoch­technisierte Gesellschaft un­erlässlich. Kaskadierende Ausfälle, also Ketten­reaktionen von Ausfällen verschiedener Infra­strukturen, sind Ursache vieler Ausfälle ganzer Netz­werke wie z.B. großen Teilen der europäischen Strom­verbund­netze. Obwohl kaskadierende Ausfälle meist durch Netzwerk-<wbr>weite nicht­lineare Dynamik zwischen den einzelnen Ausfällen beein­flusst werden, konzentrierte sich deren Modellierung bisher vor allem auf die Analyse von Sequenzen von Ausfall­ereignissen einzelner Infra­strukturen – die Dynamik zwischen diesen Ereignissen blieb jedoch un­berück­sichtigt.
Abb.: Power Grids Dynamical Cascades (Bild: Timme)
In einer neuen Studie wird am Beispiel von elektrischen Leitungs­netzen nun ein Analyse­schema vorgestellt, das sowohl den ereignis­basierten Charakter der Ketten­reaktion berücksichtigt, aber auch die spezifischen netz­werk­dynamischen Einflüsse in die Berechnung einbezieht.
Das internationale Team von Wissenschaftlern des Center for Advancing Electronics Dresden (cfaed) an der TU Dresden und des Max-<wbr>Planck-<wbr>Instituts für Dynamik und Selbst­organisation in Göttingen, des Forschungs­zentrums Jülich und der Queen Mary University of London konnte so herausfinden, dass einige Übergangs­prozesse zwischen verschiedenen Zuständen des Strom­netzes auf einer Zeit­skala von einigen Sekunden ablaufen.
„Diese können eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von kollektiven Reaktionen spielen, was schließlich bis zu einem Blackout führen kann. Wir schlagen in unserer Studie eine Vorhersage­methode vor, um potenziell gefährdete Leitungen und Netzwerk-<wbr>Komponenten bereits bei der Planung und, wenn sinnvoll, auch während des Betriebs von Leitungs­netzen zu identifizieren. Solche dynamischen Effekte könnten in Risiko-<wbr>Abschätzungen und System­planungen von Netz­betreibern integriert werden. Insgesamt unterstreichen unsere Ergebnisse die Bedeutsam­keit von dynamisch induzierten Ausfällen für die Anpassungs­vorgänge der nationalen Strom­netze verschiedener europäischer Länder“, sagt Marc Timme von der strategischen Professur für Netzwerk-<wbr>Dynamik an der TU Dresden.
Besonders große Stromausfälle, die oft Millionen von Menschen betreffen, treten durch komplexes, und oft nicht-<wbr>lokales Zusammen­spiel vieler Komponenten auf. In Europa hat z.B. 2006 das gezielte Abschalten einer Leitung zum Ausfall großer Teile des europäischen Netzes geführt und bis zu 120 Millionen Menschen betroffen. Solche ungünstigen Ketten­reaktionen können sich bereits durch das Abschalten einer einzigen Leitung im Netz aufbauen. In einem fort­geschrittenen Stadium entsteht dann eine schnelle Dynamik, die u.a. auf den automatischen Abschalt­vorrichtungen basiert, welche eigentlich der Sicherheit des Netzes dienen sollen.
Diese schnelle Dynamik war im Fokus der Untersuchung des Wissenschaftler­teams. Dirk Witthaut vom Forschungs­zentrum Jülich erklärt die Gründe: „In den letzten Jahren geht der Trend im Strom­sektor immer weiter hin zu starker Vernetzung, die Länder sind sehr eng in das europäische Verbund­netz eigebunden. Da so Ausfälle irgendwo in diesem Netz jederzeit auch uns betreffen könnten, müssen wir die Ursachen verstehen. Deshalb beschäftigten uns diese Fragen: Können wir verstehen, wie diese schnellen Prozesse ablaufen? Können wir vorhersagen, welche Leitungen einen großflächigen Strom­ausfall provozieren können?“
„Der Grundgedanke für die Sicherheits­architektur der Strom­netze ist folgender: Fällt irgendein Teil des Netzes aus, dann soll das Strom­netz weiterhin in der Lage sein zu funktionieren. Das Netz nimmt dann einen neuen stationären Zustand ein, um die ‚Fehl­stelle‘ auszugleichen. Die Frage­stellung, wie dieser stationäre Zustand aussieht, wenn das Netz genug Zeit hat, einen neuen stabilen Zustand zu finden, ist schon vielfach unter­sucht worden. Für die vergleichs­weise kurze Zeitskala der Fehler­kaskaden in Strom­netzen jedoch leistet unsere aktuelle Untersuchung quasi Pionier­arbeit“, so Vito Latora, Professor für komplexe Systeme an der Queen Mary Universität in London.
Die Wissenschaftler untersuchten die Fehler­kaskaden mittels einer Kombination aus Computer-<wbr>Simulationen und mathematischen Analysen einfacher Netz­modelle. Anhand eines simulierten Netzes, bei dem gezielt Verbindungen unterbrochen werden, wurde der statische Ansatz mit dem neuen dynamischen Ansatz verglichen. Oft zeigt die umfassendere dynamische Sicht­weise, dass das Netz komplett instabil werden kann, auch wenn der statische Ansatz noch Stabilität vorhersagt. Insgesamt werden so mehr mögliche Ausfälle entdeckt und der potentielle Umfang eines Ausfalls genauer vorher­gesagt. Um die am Modell gefundenen Prozesse mit der Wirklichkeit abzu­gleichen, wurden Strom­leitungs-<wbr>Netz­werke mit realer Verknüpfungs­struktur untersucht, konkret die spanische, britische und französische Topologie. Dabei haben die Forscher das neue Analyse­verfahren erfolgreich auf komplexe und realistischere Netze angewendet.
Zudem haben sie statistische Untersuchungen zu Ausfällen mittels des dynamischen Ansatzes durchgeführt. Wie viele Leitungen fallen aus, wenn eine zufällige Leitung betroffen ist? „In vielen Fällen sind die Auswirkungen gering, d.h. es fallen kaum weitere Leitungen aus. Gleichzeitig gibt es einige wenige kritische Leitungen, die zu größeren Ausfällen führen. Insbesondere vor dem Hinter­grund möglicher Anschläge (physisch oder auch virtuell, z.B. durch Hacker) ist es extrem wichtig, solche kritischen Leitungen zu identifizieren und zu entlasten. Daher haben wir, mit Hilfe des dynamischen Ansatzes, ein Werkzeug entwickelt, das vorhersagt, welche Leitungen kritisch sind.“ beschreibt Benjamin Schäfer vom cfaed an der TU Dresden.
Schließlich wurden auch erste Untersuchungen zur Ausbreitung von Kaskaden im Netz durchgeführt. „Statt rein geographischer Abstände zwischen verschieden Orten betrachten wir die sogenannte ‚effektive Distanz‘, welche berücksichtigt, wie stark sich unterschiedliche Teile des Strom­netzes gegenseitig beeinflussen können. Hier ist jedoch für ein besseres Verständnis noch weitere Forschung nötig, um schließlich auch Möglich­keiten zu finden, solche Kaskaden zu stoppen“ erklärt Schäfer.
TU Dresden / DE