Ein fliegendes Kraftwerk
Drachen ernten Windenergie – Prototyp mit zehn Kilowatt Leistung vor dem Test.
Jeder, der schon mal einen Kinderdrachen gesteuert hat, kennt das Gefühl: Der Wind greift den Drachen, zieht an der Schnur. Eiligst lässt man Seil nach, die Seilrolle rotiert, nur schwer kontrollierbar, zwischen den Fingern. Und die Frage kommt auf: Könnte man diese Energie nicht nur zum Spielen, sondern auch zur Stromerzeugung nutzen? Ja, man kann, wie Rolf Luchsinger gezeigt hat. Er ist Geschäftsführer von TwingTec, einem 2013 gegründeten Spin-off der Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa.
Die Idee hinter seinem Projekt ist simpel, doch die Praxis ist knifflig: Meteorologen wissen, dass in fünfhundert Metern Höhe die Leistung des Winds bis zu achtmal stärker ist als in 120 Metern Höhe – also auf der Nabenhöhe moderner Windkraftanlagen. Ein Drachen könnte diesen Starkwind nutzen, wenn er sich in Kreisbahnen in die Höhe schraubt und ein Seil von einer Rolle zieht. Mit der Achse der Seilrolle ist ein Generator verbunden, der Strom erzeugt. Sobald das Seil abgerollt ist, sinkt der Drachen antriebslos wieder in die Nähe der Startplattform. Das Seil wird dabei aufgespult, dann beginnt der Aufstieg von neuem.
„Die große Herausforderung ist nicht das Fliegen an sich“, sagt Luchsinger. „Das Problem ist das automatisierte Starten und Landen.“ Denn schließlich soll das Drachenkraftwerk Strom liefern können, ohne dass es von Menschen gesteuert wird. Im Herbst 2018 gelang genau das auf den Höhen des Chasseral in der Westschweiz. Der Prototyp T 28, ein Gerät mit drei Meter Spannweite, startete von seinem Basisfahrzeug, schraubte sich in die Höhe, kreiste dreißig Minuten lang autonom in der Luft, produzierte elektrische Energie und landete wieder wohlbehalten auf der Startplattform.
Jetzt folgt der nächste Schritt: die kontinuierliche Stromerzeugung für Kunden. Luchsingers Team arbeitet gerade am Prototyp T 29, der im Herbst beim Chasseral die ersten Flüge machen soll. T 29 soll nicht nur automatisiert starten und landen, sondern auch bis zu zehn Kilowatt elektrische Leistung erzeugen und ins Netz speisen. Die Berner Kraftwerke BKW kümmern sich um die Weiterleitung des experimentellen Windstroms zu den Verbrauchern.
Der Weg von der ersten Skizze bis zur ersten Kilowattstunde Netzstrom war allerdings lang und kurvenreich. Am Anfang stand die Idee, einen mit Druckluft verstärkten Lenkdrachen zu benutzen, ähnlich wie beim Kite-Surfen. Die Forschung an einer Reihe von Prototypen führte dann zunächst vom Segel weg zu einer Struktur mit starren Flügeln. Auch das Lenken mittels mehreren Seilen wurde verworfen zu Gunsten einer Steuerung mit Klappen wie bei einem Flugzeug. Für das Starten und Landen setzte TwingTec kleine Rotoren ein, ähnlich wie bei einer Drohne. Die Erkenntnisse aus den Flugversuchen mit dem T 29 sollen bald zum ersten Serienprodukt führen: dem TT100, einem Energiedrachen mit 15 Meter Spannweite. Positioniert auf einem Standard-Schiffscontainer, soll der Drachen autonom starten und landen und bis zu hundert Kilowatt elektrische Leistung erzeugen – das würde für sechzig Einfamilienhäuser reichen.
Allerdings: „Windkraft ist nichts für dicht besiedelte Gebiete“, betont Luchsinger. Die Kunden für diese nachhaltige Art der Energieerzeugung leben in abgelegenen Gebieten. „Wir sprechen mit Minen, abgelegenen Siedlungen und Inseln als potenzielle Kunden. Dort sind bis heute Dieselgeneratoren im Einsatz, die Abgase und Lärm erzeugen und deren Treibstoff mit hohem Aufwand angeliefert werden muss.“ Autonom arbeitende Drachen könnten dort Diesel einsparen und mittelfristig die gesamte Energieerzeugung übernehmen. Langfristig hat Luchsinger aber noch größere Pläne: mit seinen Energiedrachen schwimmende Windparks auf dem Meer zu errichten. Dort ist beliebig viel Platz, beliebig viel Wind, und es stört niemanden. Genau die Voraussetzungen also, um mit Windenergie die Energiewende zügig voranzutreiben.
Empa / RK
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