27.09.2016

Ein Lasso für die Geisterteilchen

Quantenkinetische Transport-Theorie erlaubt präzise Analyse von Neutrino-Kern-Wechselwirkungen.

Am Institut für Theoretische Physik der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) haben Forscher ein neuartiges theoretisches Verfahren zur Beschreibung der Wechselwirkungen von Neutrinos mit Materie entwickelt. Damit hoffen sie, die Eigenschaften dieser rätsel­haften Teilchen, die in radio­aktiven Zerfällen in der Sonne erzeugt werden, besser aufklären zu können. Neutrinos durch­strömen Menschen auf der Erde mit einer Rate von etwa zehn Milliarden pro Quadrat­zentimeter Körperoberfläche und pro Sekunde.

Abb.: Die LBNF-Strahllinie am Fermilab führt zum DUNE-Experiment. (Bild: Reidar Hahn, Fermilab)

Der Nachweis von Neutrinos ist schwierig, obwohl sie so zahlreich sind. Bereits 1930 theoretisch vorhergesagt, ließen sie sich erst im Jahr 1956 erstmals experimentell nachweisen. Es dauerte dann wieder etwa vierzig Jahre, bis Experimente zeigen konnten, dass diese Neutrinos nicht masselos sind, wie bis dahin immer angenommen, sondern eine sehr kleine Masse besitzen. Für die experimentellen Ergebnisse, die zu diesem Schluss führten, wurde der Physik-Nobelpreis 2015 verliehen.

Um die Eigenschaften der Neutrinos weiter aufklären zu können, laufen in Japan und in den USA bereits jetzt sogenannte Long-Baseline-Experimente, in denen ein Neutrinostrahl an Beschleunigern erzeugt und dann über Entfernungen von 700 bis 1.300 Kilometern durch die Erde zu einem großen unter­irdischen Detektor geschossen wird. Das gemeinsam von dem europäischen Forschungs­zentrum CERN bei Genf und dem amerikanischen Hoch­energie-Labor Fermilab in der Nähe von Chicago geplante, rund 1,5 Milliarden US-Dollar teure Experiment DUNE soll die Genauigkeit dieser Experimente entscheidend verbessern. Mit einem Detektor in eineinhalb Kilometern Tiefe in einer alten Goldmine sollen insbesondere Aussagen über mögliche Verletzungen der Materie-Anti­materie-Symmetrie möglich sein.

Die Bestimmung der Neutrino-Eigenschaften verlangt die Kenntnis der Energie der Neutrinos im Strahl. Dies ist ein großes Problem, denn anders als in jedem anderen Experiment der Kern- und Teilchenphysik ist die Energie des Neutrino­strahls nicht bekannt, da diese Teilchen nur als Zerfalls­produkte anderer, primärer Teilchen am Beschleuniger entstehen. Die Energie muss daher aus der Beobachtung des End­zustandes rekonstruiert werden. Da das Detektor-Material (Wasser, Kohlenstoff oder auch Argon) aus Atom­kernen besteht, müssen die Wissenschaftler die Neutrino-Kern-Wechsel­wirkung sehr genau verstehen. Nur so ist es möglich, aus dem End­zustand der Reaktion auf die Eingangs­energie zurückrechnen zu können. Die theoretische Kenntnis der Neutrino-Wechsel­wirkungen und der Kern­struktur ist dazu wichtig.

Die JLU-Physiker haben im letzten Jahrzehnt eine neuartige Beschreibung dieser Neutrino-Kern-Wechsel­wirkungen entwickelt, die auf quantenkinetischer Transport-Theorie beruht und diese „Zurück­rechnung“ mit bisher ungeahnter Genauigkeit erlaubt. Diese Theorie haben die Forscher umfänglich an bereits bekannten Elektron-Kern-Prozessen getestet und damit auf eine sichere Basis gestellt. In einer neuen Studie vergleichen sie die Theorie mit einer breiten Datenbasis zu Elektron-Kern- und Neutrino-Kern-Reaktionen. In allen Fällen wird eine hervor­ragende Über­einstimmung mit dem Experiment erzielt, so dass nun ein theoretischer Apparat zur Verfügung steht, um Vorhersagen für geplante Experimente wie zum Beispiel DUNE zu treffen. Der zugehörige Computer­code steht unter gibuu.hepforge.org zum Download zur Verfügung.

U. Gießen / DE

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