Ein Modell zum Abbremsen schwerer Ionen
Neue Vorhersagen über die Kollision von schweren Ionen bei sehr hohen relativistischen Energien.
Wenn zwei schwere Ionen bei sehr hohen relativistischen Energien kollidieren, durchdringen sie sich gegenseitig. Dabei werden sie angeregt und abgebremst. Dieser als „Stoppen“ bezeichnete Vorgang lässt sich zwar mit experimentellen Arbeiten, wie sie am Large Hadron Collider LHC des europäischen Forschungszentrums CERN durchgeführt werden, erzeugen. Das Abbremsverhalten der Ionen kann jedoch am LHC bisher nicht direkt beobachtet werden. Ein internationales Team unter Leitung von Georg Wolschin von der Uni Heidelberg hat nun berechnet, wie das Stoppen im Verlauf von Kollisionen bei sehr hohen Energien am LHC aussehen könnte. Die Wissenschaftler erhoffen sich davon auch neue Erkenntnisse über ursprüngliche Materiezustände des frühen Universums, insbesondere über die Wechselwirkung von Quarks mit Gluonen.
Schwere Ionen wie die Kerne von Atomen größerer Masse – zum Beispiel Gold oder Blei – sind positiv geladen und lassen sich in elektrischen Feldern bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigen. Sie werden vor allem bei der Erforschung des Quark-Gluon-Plasmas eingesetzt. In diesem Urzustand der Materie bewegen sich die Elementarteilchen Quarks und Gluonen frei, bevor sie Protonen, Neutronen oder andere stark wechselwirkende Teilchen bilden. Im frühen Universum gab es nach dem Urknall einen sehr ähnlichen exotischen Materiezustand, der dort etwa zehn Mikrosekunden andauerte. Ein solcher Zustand kann heute mithilfe von Teilchenbeschleunigern wie dem LHC sehr kurzzeitig für etwa 10-23 Sekunden zwar erzeugt, aber eben nicht unmittelbar, sondern nur indirekt beobachtet werden.
„Bei der Kollision schwerer Ionen werden diese abgebremst und gleichzeitig entstehen neue Elementarteilchen“, erklärt Wolschin. Obwohl der Prozess des Stoppens bei niedrigeren Energien bereits präzise gemessen werden konnte, ist es bislang nicht möglich, das Stoppen von Schwerionen unter den sehr hohen Beschleunigungsenergien am LHC bei genügend kleinen Streuwinkeln zu erfassen. Eine am LHC mögliche Messung senkrecht zum Strahl reicht für ein vollständiges Verständnis nicht aus, so der Physiker. Mithilfe eines nichtgleichgewichtsstatistischen Modells hat Wolschin jetzt in Zusammenarbeit mit Kollegen aus Heidelberg und Japan Voraussagen darüber gemacht, wie dieser Vorgang des Stoppens aussehen könnte.
Ihren Berechnungen legten die Forscher ein relativistisches Diffusionsmodell zugrunde. Dieses Modell beruht auf einer nichtgleichgewichtsstatistischen Theorie und steht in Einklang mit der Quantenchromodynamik, also der Theorie der starken Wechselwirkung. Zunächst glichen die Wissenschaftler die aus Messungen bei niedrigeren Energien vorliegenden Datensätze mit ihrem Modell ab. „Diese Daten lassen sich mit unserem relativistischen Diffusionsmodell gut beschreiben“, so Wolschin. Auf dieser Grundlage gelang es dann, theoretische Vorhersagen über das Abbremsverhalten von schweren Ionen bei den höheren Beschleunigungsenergien im Teraelektronenvolt-Bereich am LHC abzuleiten. Um sie mit Daten aus experimentellen Messungen vergleichen zu können, bedarf es jedoch zunächst einer Erweiterung der aktuell verfügbaren Messapparaturen am LHC, wie der Wissenschaftler betont.
Auf der Basis ihrer Berechnungen erwarten die Wissenschaftler von zukünftigen experimentellen Messungen am LHC neben der Bestätigung des vorhergesagten Abbremsverhaltens auch neue Einblicke in die Eigenschaften von Gluonen. Diese masselosen Partikel sind in der Quantenchromodynamik die Trägerteilchen der starken Wechselwirkung. Sie vermitteln die Kräfte zwischen Quarks und sind indirekt auch für die Anziehung von Protonen und Neutronen in einem Atomkern verantwortlich. Bei den Teilchenkollisionen im LHC werden hohe Temperaturen erreicht. Die Gluonen können dabei elastisch, das heißt ohne Veränderung der Teilchenzahl, oder inelastisch, das heißt unter Erzeugung oder Vernichtung von Teilchen, miteinander wechselwirken. „Bei elastischer Wechselwirkung könnte im Prinzip ein neuer Materiezustand, das Gluonenkondensat, entstehen“, so Wolschin. „Es sollte möglich sein, die Bedingungen abzuleiten, unter denen dieser Zustand erreicht werden kann.“
U. Heidelberg / RK
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
J. Hoelck, E. Hiyama & G. Wolschin: Limiting fragmentation in heavy-ion stopping?, Phys. Lett. B 840, 137866 (2023); DOI: 10.1016/j.physletb.2023.137866 - Institut für theoretische Physik, Universität Heidelberg