12.02.2014

Ein Russe in New York

Der Theoretiker Henry Primakoff bearbeitete nahezu alle Fragen der schwachen Wechselwirkung. Vor hundert Jahren wurde er in Russland geboren.

Der Schock des japanischen Angriffs auf Pearl Harbour war noch frisch im Gedächtnis des jungen Theoretikers Henry Primakoff, als er sich in den Dienst seiner amerikanischen Wahlheimat stellte, um kriegsrelevante Forschung zur Echoortung von U-Booten zu betreiben. Geboren wurde er am 12. Februar 1914 in Odessa. Mit sieben Jahren verließ er gemeinsam mit der Mutter und den Großeltern die von Krieg und Revolution geschüttelte Heimat und gelangte nach einer abenteuerlichen Reise quer durch Europa per Schiff nach New York. Der Vater, ein Arzt, war während des Ersten Weltkriegs bei seinem Einsatz hinter der Front verletzt worden und 1919 gestorben.

Henry Efromovitch Primakoff (1914 – 1983) (Foto: Washington University / AIP Emilio Segre Visual Archives)

Jetzt war wieder Krieg. Kurz nach dem Kriegseintritt der USA 1941 kam hoher Besuch in Primakoffs Labor an der Columbia University: Robert Oppenheimer wollte ihn für das Manhattan Project gewinnen. Doch Primakoff lehnte ab, obwohl er sich durchaus für Politik interessierte. Der Sohn zweier ehemals wohlhabenden und einflussreichen russischen Kaufmannsfamilien war in den Lower Bronx aufgewachsen. Als Schüler hatte er die Journalistenlaufbahn einschlagen wollen. An die Columbia University war er Dank eines Stipendiums gelangt. Dort hatte er dann sein Interesse für Naturwissenschaften entdeckt.

Schon während seiner Doktorarbeit hatte Primakoff sich mit Fermis Theorie des Beta-Zerfalls beschäftigt. Zeitlebens bearbeitete er Fragestellungen auf dem Gebiet der schwachen Wechselwirkung, von denen auch heute noch einige top-aktuell sind. Er hatte aber während seiner Doktorarbeit auch zusammen mit Ted Holstein eine viel zitierte Arbeit über Spinwellen in Ferromagneten veröffentlicht, deren Bedeutung erst nach dem Zweiten Weltkrieg erkannt wurde.

So vorausschauend Primakoff auch in der Wahl seines Forschungsgebietes gewesen war – die Bedeutung des amerikanischen Atombombenprojekts unterschätzte er vollkommen. Oppenheimer erklärte er, er wolle an Waffen arbeiten, die in diesem Krieg noch eingesetzt werden könnten. Knapp vier Jahre später hörte er zu seiner großen Überraschung vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Nach Kriegsende spielte Primakoff aber doch noch eine Rolle in der Kernwaffenforschung. Er berechnete, ob Wellen, die auf dem Bikini-Atoll durch Atombombentests unter Wasser entstehen würden, im Pazifikbecken ernsthafte Schäden hervorrufen würden. Sein Ergebnis: Die Eigenschaften und insbesondere die Höhe der Schockwellen in Wasser hängen lediglich von ihrer Energie ab. Obwohl sein Ergebnis nicht publiziert wurde, sind diese Wellen später nach ihm benannt worden.

Nach dem Krieg erhielten Henry Primakoff und seine Frau, die Chemikerin Mildred Cohn, eine Anstellung an der Washington University in St. Louis. Mildred Cohn war die Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland. Sie schlug, trotz anfänglicher Schwierigkeiten aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Konfession, ebenfalls eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere ein, unterstützt von ihrem Mann, mit dem sie drei Kinder hatte.

An der Washington University publizierte Primakoff 1951 eine Arbeit über die Entstehung neutraler Mesonen durch Gamma-Quanten im Feld eines Atomkerns. Hierbei kann ein hochenergetisches Photon im elektrischen Feld eines Kerns in ein neutrales Meson konvertieren. Er erkannte, dass man den heute nach ihm benannten Effekt umgekehrt auch dazu nutzen kann, die Lebensdauer von Mesonen über ihre Zerfallsrate in zwei Photonen zu ermitteln – ein Verfahren, das auch heute noch verwendet wird. Im CAST-Experiment am CERN nutzt man den invertierten Primakoff-Effekt, um nach „Axionen“, möglichen Kandidaten für die Dunkle Materie, zu suchen. Axionen sind sehr schwach wechselwirkende Teilchen und können, falls sie existieren, in der Sonne mittels des Primakoff-Effektes produziert werden.

1959 wechselten Primakoff und seine Frau, die immer zugleich mit ihm eine Stelle angeboten bekam, an die University of Pennsylvania. Hier setzte der Physiker seine Arbeit zur schwachen Wechselwirkung fort. Er wurde in den 1960er-Jahren ein weltweit anerkannter Experte für den Myon-Einfang in Atomen, den doppelten Beta-Zerfall und andere Fragen zur schwachen Wechselwirkung von Atomkernen. 1969 nahm Primakoff zusammen mit Peter Rosen den Hinweis des italienischen Physikers Bruno Pontecorvo auf, es könne einen neutrinolosen doppelten Beta-Zerfall geben. Das weckte seine Neugierde, denn in diesem Falle wäre das Neutrino identisch mit seinem eigenen Antiteilchen. Neutrinos mit dieser Eigenschaft wurden von Pontecorvos Landsmann Ettore Majorana vorhergesagt. Solche Majorana-Neutrinos werden heute mittels des neutrinolosen doppelten Beta-Zerfalls gesucht, so etwa mit dem Gerda-Experiment im Gran-Sasso-Labor.

In seinem letzten Review-Artikel, den Primakoff schon schwer erkrankt mit Rosen schrieb, diskutierten die beiden Theoretiker die Möglichkeit von Neutrino-Oszillationen. Primakoff lebte nicht mehr lange genug, um zu erfahren, dass das Verschwinden solarer Neutrinos durch Neutrino-Oszillationen erklärt werden kann, bei denen sich Elektron-Neutrinos in Myon- und Tau-Neutrinos umwandeln.

„Er bewegte sich nicht gern allzu weit vom Experiment fort und er spekulierte nur selten über Dinge, die außerhalb der experimentellen Reichweite lagen“, erinnert sich Rosen. Henry Primakoff starb 1983 friedlich im Kreis seiner Familie. Bis fast zuletzt hatte er gearbeitet und unterrichtet. In Erinnerung an ihn schreibt die American Physical Society seit 2011 einen nach ihm benannten Preis für Nachwuchsforscher in der Teilchenphysik aus.

Anne Hardy

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