Eine Quantenwelle in zwei Kristallen
Bau eines Neutronen-Interferometer aus zwei getrennten Kristallen geglückt.
Neutroneninterferometer spielen seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle für Präzisionsmessungen und die physikalische Grundlagenforschung. Ihre Größe war bisher aber begrenzt, weil sie nur funktionierten, wenn sie aus einem einzigen Kristall hergestellt wurden. Schon seit den 1990er Jahren versuchte man, auch Interferometer aus zwei getrennten Kristallen herzustellen – bisher ohne Erfolg. Doch genau dieses Kunststück gelang nun einem Team von der TU Wien, INRIM Turin und ILL Grenoble durch eine Hochpräzisionsmessung mit extrem exakt ausgerichteten Kristallen. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten für Quantenmessungen, bis hin zur Erforschung von Quanteneffekten im Gravitationsfeld.
„Das Prinzip des Interferometers ähnelt dem berühmten Doppelspaltexperiment, bei dem ein Teilchen wellenartig auf einen Doppelspalt geschossen wird, als Welle beide Spalte gleichzeitig durchdringt und sich dann mit sich selbst überlagert, sodass danach am Detektor ein charakteristisches Wellenmuster entsteht“, erklärt Hartmut Lemmel vom Atominstitut der TU Wien. Doch während beim Doppelspaltexperiment die beiden Spalte nur einen minimalen Abstand voneinander entfernt sind, teilt man die Teilchen im Neutroneninterferometer in zwei verschiedene Pfade auf, zwischen denen mehrere Zentimeter liegen. Die Teilchenwelle erreicht eine makroskopische Größe – trotzdem entsteht durch Überlagerung der beiden Pfade ein Wellenmuster, das eindeutig beweist: Das Teilchen hat sich nicht für einen der beiden Pfade entschieden, es hat beide Pfade gleichzeitig benutzt.
Doch solche Quanten-Überlagerungen sind äußerst fragil. „Winzige Ungenauigkeiten, Vibrationen, Verschiebungen oder Rotationen zerstören den Effekt“, sagt Lemmel. „Daher fräst man normalerweise das gesamte Interferometer aus einem einzigen Kristall heraus.“ In einem Kristall sind alle Atome miteinander verbunden und haben eine feste räumliche Beziehung zueinander – so kann man den Einfluss der äußeren Störungen auf die Neutronenwelle minimieren. Das schränkt aber die Möglichkeiten der Neutroneninterferometrie stark ein, denn Kristalle kann man nicht in beliebiger Größe herstellen. „Schon in den 1990er Jahren versuchte man daher, Neutroneninterferometer aus zwei Kristallen herzustellen, die dann in größerem Abstand voneinander positioniert werden können“, sagt Lemmel. „Doch das glückte nicht. Die Schwierigkeit daran ist, dass man die beiden Kristalle ganz exakt gegeneinander ausrichten muss.“
Die Anforderungen an die Genauigkeit sind extrem: Schon eine Verschiebung des Kristalls um die Distanz eines Atomdurchmessers verschiebt die Phase der Interferenz um eine volle Periode. Und wenn einer der Kristalle um einen Winkel in der Größenordnung von einem hundertmillionstel Grad verdreht ist, verschwindet das Interferenzmuster ganz. Die nötige Winkelpräzision entspricht etwa der Präzision, mit der man ein von Wien nach Grenoble geschossenes Teilchen kontrollieren müsste, um dort in knapp 900 Kilometern Entfernung eine Stecknadel zu treffen – oder von der Erde aus einen Kanaldeckel auf dem Mond.
Das Istituto Nazionale di Ricerca Metrologica (INRIM) in Turin brachte die dafür nötige Erfahrung mit, die es auf dem Gebiet der Röntgeninterferometrie über Jahrzehnte hinweg gesammelt hatte. Auch Röntgeninterferometer bestehen aus Siliziumkristallen, die ähnlich empfindlich sind. Die Empfindlichkeit gegenüber der räumlichen Verschiebung eines Kristalls wurde in Turin dafür genutzt, die Gitterkonstante von Silizium mit bisher unerreichter Genauigkeit zu bestimmen. Dadurch wurde es möglich, die Atome einer makroskopischen Siliziumkugel zu zählen, die Avogadro- und die Planck-Konstante zu bestimmen und das Kilogramm neu zu definieren. „Was mit Röntgenstrahlen funktioniert, sollte doch auch mit Neutronen möglich sein“, sagt Enrico Massa vom INRIM, „auch wenn die Anforderungen mit Neutronen noch höher sind.“ Mit einem zusätzlich eingebauten Laser-Interferometer, Vibrationsdämpfung und Temperaturstabilisierung ist es der Kollaboration jetzt schließlich gelungen, Neutroneninterferenz in einem System aus zwei voneinander getrennten Kristallen nachzuweisen.
„Das ist für die Neutroneninterferometrie ein ganz entscheidender Durchbruch“ sagt Michael Jentschel vom ILL. „Denn wenn man zwei Kristalle so gut kontrollieren kann, dass Interferometrie möglich wird, dann kann man auch den Abstand zwischen diesen Kristallen erhöhen und somit recht einfach die Größe des Gesamtsystems erweitern.“ Diese Gesamtgröße bestimmt bei vielen Experimenten die Genauigkeit, die man bei der Messung erreichen kann. Man kann nun fundamentale Wechselwirkungen mit bisher unerreichter Genauigkeit untersuchen – etwa den Einfluss von Gravitation auf Neutronen im Quantenbereich oder die Existenz von hypothetischen neuen Naturkräften.
TU Wien / JOL