23.11.2020

Elektronen aus dünnen Schichten

Gebrochene Symmetrien erklären Mechanismus einer speziellen Elektronenemission.

Elektronen verlassen ein bestimmtes Material, fliegen davon und werden gemessen – das ist in der Physik etwas ganz Alltägliches. Manche Materialien emittieren Photo­elektronen, wenn man sie mit Licht bestrahlt. In der Material­forschung spielen auch Auger-Elektronen eine wichtige Rolle – sie können von Atomen ausgesandt werden, wenn man ihnen zuvor ein Elektron aus einer der inneren Elektronen­schalen entreißt. Doch nun gelang es an der Technischen Universität Wien, eine ganz andere Art der Elektronen­emission zu erklären, die beispiels­weise bei Kohlenstoff-Materialien wie Graphit auftritt. Bekannt ist diese Elektronen­emission schon seit etwa fünzig Jahren, doch ihre Ursache war bisher unklar.

Abb.: Florian Libisch, Philipp Ziegler, Wolfgang Werner und Alessandra...
Abb.: Florian Libisch, Philipp Ziegler, Wolfgang Werner und Alessandra Bellissimo lösten ein altes Rätsel um eine neue Sorte von Elektronen. (Bild: TU Wien)

„Viele Forschende haben sich darüber bereits gewundert“, sagt Wolfgang Werner vom Institut für Angewandte Physik. „Es gibt Materialien, die aus atomaren Schichten bestehen, die nur von schwachen van-der-Waals-Kräften zusammen­gehalten werden, zum Beispiel Graphit. Und man stellte fest, dass diese Sorte von Graphit ganz bestimmte Elektronen aussendet, die alle exakt dieselbe Energie haben, nämlich 3,7 Elektronenvolt.“ Kein bekannter physi­kalischer Mechanismus konnte diese Elektronen­emission erklären. Doch die gemessene Energie gab einen Hinweis darauf, wo man suchen muss: „Wenn diese atomar dünnen Schichten aufeinander­liegen, dann kann sich dazwischen ein bestimmter Elektronen­zustand ausbilden“, sagt Wolfgang Werner. „Man kann sich das vorstellen wie ein Elektron, das laufend zwischen den beiden Schichten hin und her reflektiert wird, bis es irgendwann die Schicht durchdringt und nach außen entkommt.“

Man wusste, dass die Energie dieser Zustände eigentlich gut zu den beobachteten Daten passt, doch das alleine war auch keine Erklärung. „Die Elektronen in diesen Zuständen sollten eigentlich nicht zum Detektor gelangen“, sagt Alessandra Bellissimo. „In der Sprache der Quanten­physik sagt man: Die Übergangs­wahrscheinlichkeit ist zu gering.“ Um das zu ändern, muss die innere Symmetrie der Elektronen­zustände gebrochen werden. „Man kann sich das so ähnlich vorstellen wie beim Springschnur­springen“, erklärt Werner. „Zwei Kinder halten ein langes Seil und bewegen die Endpunkte. Eigentlich erzeugen sie damit beide eine Welle, die sich normaler­weise von einer Seite des Seils bis zur anderen ausbreiten würde. Doch wenn das System symmetrisch ist und beide genau dasselbe tun, bewegt sich das Seil rauf und runter. Das Schwingungs­maximum bleibt immer an derselben Stelle. Wir sehen keine Wellenbewegung nach links oder rechts, man spricht von einer stehenden Welle.“ Wird die Symmetrie aber gebrochen, weil sich etwa eines der Kinder nach hinten bewegt, ist die Situation anders – dann bekommt das Seil plötzlich eine völlig andere Dynamik und das Schwingungs­maximum wandert.

Solche Symmetrie­brechungen können sich auch im Material ergeben. Elektronen verlassen ihren Platz und bewegen sich. An der Stelle, an der sie vorher gesessen sind, bleibt ein Loch zurück. Solche Elektron-Loch-Paare stören die Symmetrie, und dadurch haben die Elektronen plötzlich gleich­zeitig die Eigenschaften zweier unter­schiedlicher Zustände. So lassen sich zwei Vorteile miteinander verbinden: Einerseits gibt es eine große Zahl solcher Elektronen, und andererseits ist auch ihre Wahrschein­lichkeit ausreichend hoch, zum Detektor zu gelangen. In einem perfekt symmetrischen System wäre nur das eine oder das andere möglich. Laut Quanten­mechanik können sie beides gleichzeitig, weil durch die Symmetriebrechung die zwei Zustände verschmelzen oder hybri­disieren.

„Es ist gewissermaßen eine Teamarbeit zwischen den Elektronen, die zwischen zwei Schichten des Materials hin und her reflektiert werden und den symmetrie­brechenden Elektronen“, sagt Florian Libisch vom Institut für Theoretische Physik. „Nur wenn man sie gemeinsam betrachtet, lässt sich erklären, dass das Material Elektronen von genau dieser Energie von 3,7 Elektronen­volt aussendet.“ Kohlenstoff­materialien wie die Graphit-Sorte, die in dieser Forschungsarbeit analysiert wurde, spielen heute eine große Rolle – etwa das 2D-Material Graphen, aber auch Kohlenstoff-Nano­röhrchen mit winzigem Durchmesser, die ebenfalls bemerkens­werte Eigenschaften aufweisen. „Der Effekt sollte in ganz unter­schiedlichen Materialien auftreten – überall dort, wo dünne Schichten durch schwache Van-der-Waals-Kräfte zusammen­gehalten werden“, sagt Werner. „In all diesen Materialien dürfte diese ganz spezielle Art der Elektronen­emission, die wir nun erstmals erklären können, eine wichtige Rolle spielen.“

TU Wien / JOL

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