17.07.2012

Er folgte seiner Intuition

Am 17. Juli 1912 verstarb Henri Poincaré, der viele Beiträge zur Anwendung der Mathematik in der Physik geleistet hat.

„Er wirkt geistesabwesend. […] Er hält seinen Charakter für ruhig, freundlich und ausgeglichen. Aber er hat keine Geduld bei seinen Tätigkeiten, noch nicht einmal bei der Arbeit. […] Im täglichen Leben ist er diszipliniert. Er ist nicht ordentlich, weiß diese Eigenschaft aber zu schätzen. Er spricht korrekt, aber mit einiger Scheu, die ihm bewusst ist.“ So charakterisierte der Psychologe Dr. Toulouse seinen damals 43-jährigen Kollegen Henri Poincaré. Toulouse versuchte das mathematische Genie des Professors an der Sorbonne in Paris zu erfassen und gelangte dabei zu heute noch lesenswerten Schlussfolgerungen über dessen Arbeitsweise.

Schon in der Schule war der 1854 in Nancy Geborene durch seine Begabung und sein ungewöhnlich gutes Gedächtnis aufgefallen. Er hatte in Rekordzeit an zwei Pariser Elite-Hochschulen studiert, der Ecole Polytechnique und der Ecole des Mines. Währenddessen hatte er heimlich die Mathematik-Vorlesungen an der naturwissenschaftlichen Fakultät besucht. Seine Dissertation schrieb er während seines ersten Einsatzes als Bergbau-Ingenieur in der Franche-Comté. Die Karriere als Ingenieur gab er nach nur sieben Monaten wieder auf: Bei einem Grubenunglück waren 16 Bergarbeiter ums Leben gekommen, und Poincaré musste den Ort unter gefährlichen Umständen inspizieren.

In Poincarés Dissertation, die er wenige Monate später einreichte, fand der Gutachter gleich Stoff für mehrere Doktorarbeiten. „Poincaré stützte sich auf seine Intuition. Wenn er ans Ziel gelangt war, blickte er nie mehr zurück. Ihm genügte es, die Hürden durchbrochen zu haben; die Mühe, einen gangbaren Weg zu finden, überließ er anderen“, erklärte der Gutachter später die Ideenfülle seines Doktoranden. Ein Beispiel dafür ist die erst 2002 von dem russischen Mathematiker Grigori Perelmann bewiesene Poincaré-Vermutung. – Perelman erhielt für diesen Beweis, der in der Fachwelt drei Jahre lange geprüft wurde, die Fields-Medaille, lehnte sie aber ab.

1885 kam Poincaré seine Unlust, sich mit der Ausarbeitung von Details zu beschäftigen, teuer zu stehen. Auf Anregung des Mathematikers Gösta Mittag-Leffler hatte der schwedische König Oskar II eine Goldmedaille und 2.500 Goldkronen für denjenigen ausgesetzt, dem es gelingt, eines von vier mathematischen Problemen zu lösen. Poincaré widmete sich dem 3-Körper-Problem in der Himmelsmechanik. Als er den Preis gewann, sorgte das in der französischen Presse für Aufsehen und brachte ihm den Orden der Ehrenlegion ein. Als die Arbeit schon im Druck war, fand aber ein junger Mitarbeiter Mittag-Lefflers einige Passagen, die mathematisch unklar waren. Poincaré antwortete darauf mit neun Zusätzen, gefolgt von einem längeren Schweigen. Dann musste er in einem zerknirschten Brief zugeben, dass er sich bezüglich der Stabilität des Sonnensystems geirrt hatte.

Ein halbes Jahr später schickte Poincaré die korrigierte Version seiner Arbeit, die nun auf seine Kosten neu gedruckt wurde. Heute wird Poincarés damaliger Irrtum als die Geburtsstunde der Chaos-Theorie angesehen. 1912 präzisierte er, eine exakte Vorhersage über die Entwicklung eines Vielkörpersystems sei unmöglich, weil man dessen Anfangsbedingungen nur näherungsweise bestimmen könne. „Es kann vorkommen, dass kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen große im Ergebnis zur Folge haben […, eine] Vorhersage wird unmöglich und wir haben ein zufälliges Phänomen.“

Auf dem ersten Solvay-Kongress 1911 diskutierte Henri Poincaré (rechts am...
Auf dem ersten Solvay-Kongress 1911 diskutierte Henri Poincaré (rechts am Tisch sitzend) unter anderem mit Marie Curie. Mit Albert Einstein (2. v. r. stehend) stritt er über die Interpretation der Quantenphysik.

In der Physik bereitete Poincaré zusammen mit Hendrik Anton Lorentz den Boden für die spezielle Relativitätstheorie. Beide beschäftigten sich mit der Ausbreitung elektromagnetischer Wellen und stellten fest, dass die Maxwell-Gleichungen sich unter der Galilei-Transformation änderten. Zur Lösung des Problems formulierte Lorentz eine Vorschrift für die Transformation der Koordinaten, die von Poincaré vereinfacht und als „Lorentz-Transformation“ bezeichnet wurde. Er erkannte auch die Gruppeneigenschaft der Transformation.

Poincaré, der dafür bekannt war, dass ihm Einfälle blitzartig kamen, schlug 1906 als erster vor, Vierer-Vektoren für die Raum-Zeit einzuführen, verwarf den Einfall aber wieder. Bereits in einer Arbeit aus dem Jahr 1900 hatte er festgestellt, dass die elektromagnetische Energie sich wie ein „fiktives“ Fluid mit der Masse m=E/c2 verhält. Allerdings zog er daraus nicht den Schluss, dass strahlende Materie Masse verliert.

Ein Jahr vor Poincarés Tod mit nur 58 Jahren traf er den 32-jährigen Einstein auf dem ersten Solvay-Kongress in Brüssel. Dort kam es zu Differenzen, aber nicht wegen der Relativitätstheorie, sondern wegen die Interpretation der Quantentheorie. Poincaré irritierte dabei, dass dieselbe Theorie einerseits auf den Prinzipien der klassischen Mechanik beruhte, andererseits aber auf neuen Hypothesen, die ihr widersprechen: „Man sollte nicht vergessen, dass jede Annahme bewiesen werden kann, wenn man zur Beweisführung zwei widersprüchliche Annahmen verwendet“. In einer seiner letzten Veröffentlichungen, die er im Anschluss an den Kongress publizierte, zeigte er, dass die Annahme von Quantensprüngen notwendig war, um die in Brüssel diskutierten experimentellen Daten zu erklären.

Poincaré verfasste in seinem Leben fast 500 Abhandlungen und schrieb mehr als 30 Bücher, viele davon über die Anwendung der Mathematik in der Physik und Astronomie sowie zur Wissenschaftsphilosophie. Zu seiner Zeit vermochten nur wenige Menschen seinen Gedanken zu folgen. Der französische Mathematiker Jean Leray meint dazu: „Nach einem Jahrhundert mathematischer Forschung können wir seine Gedanken besser verstehen und darüber in einer vertrauteren Weise sprechen; aber je mehr wir uns ihnen nähern, umso mehr bewundern und respektieren wir sie.“

Anne Hardy

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