Erdbebenrisiken besser ermitteln
Geophysikalisches Verfahren spürt neotektonische Aktivität im Untergrund auf.
Forschende des Leibniz-Instituts für Angewandte Geophysik (LIAG) und der Leibniz Universität Hannover (LUH) haben ein Verfahren entwickelt, mit dem sie den Zusammenhang zwischen kleinen Deformationsstrukturen an der Oberfläche und der neotektonischen Aktivität verdeckter Verwerfungen im Untergrund nachweisen können. Selbst aseismische Kriechaktivitäten werden so ermittelt. Verdeckte Verwerfungen haben ein hohes seismisches Gefährdungspotenzial. Der Ansatz deckt den großen Bedarf an einem robusten geologischen Indikator und soll die Ausweisung in bestehenden Gefährdungskarten unterstützen.
Die Forschenden untersuchten Disaggregationsbänder, also zentimeterdicke Zonen deformierter Sedimente, in Aufschlüssen oberhalb von bekannten Verwerfungen in Deutschland und Dänemark. Diese Bänder entstehen ähnlich wie Verwerfungen im festen Untergrund, allerdings in oberflächennahen, sandigen Lockersedimenten und sind damit vergleichsweise leicht zugänglich. Die Forschenden stellten fest, dass diese Disaggregationsbänder im direkten Zusammenhang mit neotektonischer Aktivität an Verwerfungen im Untergrund stehen können. Dies ist ein wichtiger Schritt für die neotektonische Gefährdungsanalyse. Zudem gab es bislang noch keine robusten Indikatoren, um Kriechbewegungen, die beispielsweise vor einigen tausend Jahren stattgefunden haben, nachzuweisen. Kriechende Verwerfungen stellen eine besondere Herausforderung dar, da sie trotz ihrer aktuellen aseismischen Phase in der Zukunft durchaus wieder Erdbeben erzeugen können.
„Verdeckte Verwerfungen können besonders große Folgen haben, da sie oft unbekannt sind und Erdbeben überraschend auftreten“, sagt Christian Brandes von der LUH. „Es gibt noch viele verdeckte Verwerfungen, deren Position und Aktivität bisher nicht genau bestimmt werden konnte – denn das Erfassen speziell von kriechenden Verwerfungen war bis jetzt nur mit Hilfe von dauerhaften Beobachtungen an der Oberfläche möglich.“ David Colin Tanner vom Leibniz-Instituts für Angewandte Geophysik ergänzt: „Oft wird nur dort gezielt beobachtet, wo Erdbeben bereits aufgetreten sind. Es gibt aber beispielsweise in Norddeutschland auch Spannungen im Untergrund, die durch das Abschmelzen der Gletscher am Ende der letzten Eiszeit verursacht wurden und zu einer noch andauernden, aber oft unterschätzten Aktivitätsphase von Verwerfungen geführt haben. Zukünftige Analysen zum Gefahrenpotenzial bekannter Störungen müssten die neuen Erkenntnisse berücksichtigen.“
Mit Hilfe eines Scherapparats simulierten die Forschenden die Entstehung der Disaggregationsbänder und konnten die Erkenntnisse auf die Aktivität von verdeckten Verwerfungen im Untergrund übertragen. Zudem wurden die Disaggregationsbänder auf kleinster Skala im Labor analysiert. Mithilfe von Computertomographie hat die Geophysik zudem im Rahmen der Grundlagenforschung wichtige Erkenntnisse hinsichtlich ihrer Porositätsverteilung geliefert. Diese Grundlagenforschung ist auch unter anderen Gesichtspunkten wichtig: Vergleichbare Bänder können im Festgestein einen Einfluss auf das Förderpotenzial von geothermischer Energie oder von Gas- und Öllagerstätten haben.
Ihr neues Verfahren werden die Forschenden zukünftig in Kombination mit weiteren geologischen und geophysikalischen Methoden zur gesamtheitlichen Erfassung von Störungsaktivitäten verfeinern. So zum Beispiel in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt an einer aktiven Verwerfung in Neuseeland. Seit über zehn Jahren versuchen die Kooperationspartner Forschungsverfahren und -methoden zu verbessern und damit Prognosen für das Gefährdungspotenzial zu schaffen.
LIAG / JOL