17.08.2018

Farbige Sonnentaler in der Kirche

Projektionen von Kirchenfenster auf den Boden sind nicht nur schön bunt, sondern haben auch einen physikalischen Bezug.

Wenn man die Projektion von Kirchenfenstern mit farbigen Motiven auf dem Boden sieht, erscheint der Anblick zunächst wenig erstaunlich. Erst auf den zweiten Blick wird man sich vielleicht darüber wundern, dass die ursprünglichen Motive kaum zu erkennen sind, weil ihre Details in einem Ensemble runder Farbflecken verschwinden.

Alte Kirchenfenster bestehen meist aus kleinen bleigefassten Glaselementen unterschiedlicher Farbe, die mosaikartig zu Bildern zusammengefügt sind. Jedes dieser Minifensterchen hat also eine besondere Form. Wenn das Sonnenlicht durch diese verglasten Öffnungen geht und diese in größerer Entfernung auf dem Boden der Kirche abbildet, erkennt man die ursprüngliche Form der Öffnungen nicht wieder: Alle Abbildungen stellen runde Lichtflecken dar (Abbildung 1, links).

Abb.1 Links: Abbild eines farbigen Kirchenfensters, aufgenommen in der Santa Maria Novella in Florenz, rechts Sonnentaler auf einem Weg (Fotos: Schlichting).

Die runden Farbflecken sind eine Variante der runden Lichtflecken, welche die Sonne unter dem Blätterdach von Bäumen hervorruft (Abbildung 1, rechts). Auch dort werden durch beliebig geformte Lücken zwischen den Blättern runde Lichtflecken auf dem Waldboden abgebildet; sogenannte Sonnentaler (Physik in unserer Zeit 27(2), 77 (1996)). Die richtige Erklärung fand Johannes Kepler 1604.

Keplers entscheidender Schritt bestand darin, die spätestens seit Euklid bekannte Vorstellung, dass ein leuchtender Punkt radial in alle Richtungen strahlt, mit der Idee zu vereinigen, dass eine leuchtende Fläche als Ensemble unendlich vieler leuchtender Punkte angesehen werden kann. So gesehen entwirft jedes von den Punkten der Lichtquelle ausgehende, vom Loch begrenzte Lichtbündel auf dem Schirm ein eigenes Bild des Loches (Abbildung 2). In der Überlagerung sämtlicher Bilder des Loches entsteht ein hybrides Gebilde, das der Form der Lichtquelle (des Loches) umso ähnlicher wird, je kleiner (größer) das Loch und/oder je entfernter (näher) der Schirm ist. Stellt man sich gemäß Abbildung 2 einen Lichtpunkt vor, der den Rand der Lichtquelle ,,abtastet", so ,,sieht" man vor seinem geistigen Auge, wie das zugehörige Lichtbündel ein Dreieck von Kreisen und damit ein mehr oder weniger stark aufgeblähtes Bild der Lichtquelle (sprich des Loches) entwirft.

Abb. 2 Ein von einer flächenhaften Lichtquelle durchstrahltes Loch erzeugt hybride Abbildungen von der Form des Loches und der Lichtquelle. Sie ähneln um so mehr der Form der Lichtquelle, je kleiner das Loch ist.

Ob von den Erbauern der Kirchenfenster geplant oder nicht, diese Ensembles von farbigen Sonnentalern tragen auf ihre Weise zur Verschönerung des Kircheninnern bei.

Hans Joachim Schlichting, Münster

Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit in der Rubrik "Im Blickwinkel" erschienen.

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