20.06.2018

Fehlende kosmische Baryonen gefunden

Die kosmische Baryonen-Zensus ist abgeschlossen: Heiße inter­galaktische Materie macht ihn komplett.

Ein langes Rätsel­raten in der Kosmologie kommt zu einem versöhn­lichen Ende: Schon seit Jahrzehnten wundern sich Astro­nomen, wo ein großer Teil der gewöhn­lichen Materie im Kosmos steckt. In massiven Ansamm­lungen wie Sternen in Galaxien ist nur ein kleiner Teil gebunden, rund zehn Prozent. Nimmt man das heiße, diffuse Gas in den Halos von Galaxien sowie das noch heißere Gas in Galaxien­haufen hinzu, erreicht man insgesamt nur zwanzig Prozent der erwarteten Masse. Der mit Abstand größte Teil normaler Materie sollte also als dünnes Gas in den unermess­lichen Weiten des Weltalls vorliegen. Doch diese inter­galaktischen Gasmassen ließen sich bislang nur unzu­reichend kartieren. Die bary­onische Materie macht im Verhältnis zu dunkler Materie und Energie nur rund fünf Prozent der gesamten Materie-Energie im Kosmos aus.

Abb.: Der Röntgensatellit XMM-Newton misst die Absorption der Strahlung eines fernen Quasars. Darin finden sich Spuren heißer intergalaktischer Materie. (Bild: ESA / ATG medialab / XMM-Newton / F. Nicastro et al. / R. Cen)

Die Gesamt­masse an Baryonen, die das Universum erfüllt, lässt sich recht solide aus Messungen des kosmischen Mikrowellen­hintergrunds ableiten. Der Ursprung dieser Strahlung liegt rund 380.000 Jahre nach dem Urknall. Bei der Beobachtung extrem weit entfernter Galaxien im jungen Universum stimmen die erwarteten Verhält­nisse noch. Nach einigen Milliarden Jahren scheint allerdings ein großer Teil der Materie zu fehlen. Die bislang gefundenen Gasmassen des intergalak­tischen Mediums lieferten insgesamt nur rund vierzig Prozent der erwarteten Materie, so dass mit den Sternen und dem Gas in und um Galaxien nur sechzig Prozent der erwarteten Menge an Baryonen bekannt waren. Die Tempera­turen des beobach­teten inter­galaktischen Gases lagen dabei bei bis zu einigen 100.000 Kelvin. Nun konnte ein inter­nationales Astronomenteam um Fabrizio Nicastro vom astro­nomischen Obser­vatorium in Rom den lange gesuchten Nachweis führen, dass noch heißeres inter­galaktisches Gas wohl die fehlenden vierzig Prozent ausmacht. Damit sind alle theoretisch postu­lierten „Popu­lationen“ baryonischer Materie endlich gefunden.

Die Forscher nutzten das ESA-Röntge­n­­observa­­torium XMM-Newton, um mit einer kumu­lierten Beobach­tungszeit von 18 Tagen – die längste derartige je bewilligte Kampagne –, verteilt über einen Zeitraum zwischen 2015 und 2017, einen sehr hellen Quasar zu beobachten. Dabei maßen sie die Absorption der Röntgen­strahlung des Quasars durch dazwischen liegendes interga­laktisches Gas. Die exakte Rotver­schiebung des Quasars ist nicht bekannt, muss aber ein Stück weit über 0,4 liegen, da Lymann-Alpha-Linien von absor­bierendem Wasser­stoff ungefähr bei dieser Rotver­schiebung vorliegen. Das Licht des Quasars war über vier Milliarden Jahre bis zu uns unterwegs.

Im Spektrum fanden die Forscher bei zwei verschiedenen Rotver­schiebungen die Absorptions­linien von hochgradig ioni­siertem Sauer­stoff, der auf entsprechende Reservoire an sehr heißem Gas hinweist. Diese Kompo­nente von Gasmassen bei rund einer Millionen Kelvin und darüber waren bei früheren Kar­tierungen unsichtbar geblieben. Das liegt daran, dass der größte Teil dieses Gases aus ioni­siertem Wasser­stoff besteht, der sich im Signal­rauschen versteckt. Da das intergalak­tische Gas aber einen gewissen Austausch mit Galaxien hat, finden sich in ihm auch schwerere Elemente wie der nun nach­gewiesene Sauer­stoff.

Abb.: Die nun nachgewiesene heiße Komponente der intergalaktischen Materie macht rund 40 Prozent aller Baryonen aus. (Bild: ESA)

Natürlich ist die Messung an zwei Punkten in den unbe­schreiblichen Weiten des Alls kein Beweis dafür, dass überall die passende Menge an Baryonen vorliegt. Eine ganze Reihe weiterer Beobach­tungen wird notwendig sein, um einer­seits diesen Befund zu erhärten und anderer­seits Daten über die räumliche Varianz der kosmischen Materie­häufigkeit zu liefern. Die Forscher gehen aber davon aus, dass sich am grund­legenden Befund nichts ändern wird. „Das, was wir gesehen haben, bestätigt sehr schön die theo­retischen Annahmen und Erwartungen aus hydro­dynamischen Simu­lationen zur Strukturen­entstehung im Universum“, sagt Nicastro.

Als nächstes wollen die Forscher sieben weitere Sicht­linien zu anderen Quasaren eingehend untersuchen, auch mit Hilfe optischer Groß­teleskope. Dabei ist unter anderem die Frage­stellung interessant, inwieweit Wechsel­wirkungen zwischen dem intergalak­tischen Gas und demjenigen in Galaxien bestehen und zu wieviel Austausch es zwischen diesen Popu­lationen kommt.

XMM-Newton ist mittler­weile ein Urgestein der Röntgen­astronomie und ebenso wie Chandra schon seit 1999 im All. Ende dieses Jahres wird XMM-Newton aber in Rente gehen. Einen deutlich genaueren und tieferen Blick ins All als die jetzigen Weltraum-Obser­vatorien wird der Röntgen­satellit Athena liefern. Die ESA plant, Athena 2028 ins All zu schießen. Dank einer sehr scharfen Energie­auflösung und einer hohen effektiven Sammel­fläche wird das Röntgen­kalorimeter von Athena unter anderem die physi­kalischen, chemischen und dyna­mischen Eigen­schaften der intergalak­tischen Baryonen mit unüber­troffener Güte unter­suchen können. Die Wissen­schaftler erhoffen sich hiervon nicht nur eine höhere Präzision in der Beschreibung der inter­galaktischen Materie, sondern auch Rück­schlüsse auf die Wechsel­wirkung zwischen dieser Materie und den Materie­strömen in Galaxien.

Dirk Eidemüller

JOL

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