Fehlende kosmische Baryonen gefunden
Die kosmische Baryonen-Zensus ist abgeschlossen: Heiße intergalaktische Materie macht ihn komplett.
Ein langes Rätselraten in der Kosmologie kommt zu einem versöhnlichen Ende: Schon seit Jahrzehnten wundern sich Astronomen, wo ein großer Teil der gewöhnlichen Materie im Kosmos steckt. In massiven Ansammlungen wie Sternen in Galaxien ist nur ein kleiner Teil gebunden, rund zehn Prozent. Nimmt man das heiße, diffuse Gas in den Halos von Galaxien sowie das noch heißere Gas in Galaxienhaufen hinzu, erreicht man insgesamt nur zwanzig Prozent der erwarteten Masse. Der mit Abstand größte Teil normaler Materie sollte also als dünnes Gas in den unermesslichen Weiten des Weltalls vorliegen. Doch diese intergalaktischen Gasmassen ließen sich bislang nur unzureichend kartieren. Die baryonische Materie macht im Verhältnis zu dunkler Materie und Energie nur rund fünf Prozent der gesamten Materie-Energie im Kosmos aus.
Abb.: Der Röntgensatellit XMM-Newton misst die Absorption der Strahlung eines fernen Quasars. Darin finden sich Spuren heißer intergalaktischer Materie. (Bild: ESA / ATG medialab / XMM-Newton / F. Nicastro et al. / R. Cen)
Die Gesamtmasse an Baryonen, die das Universum erfüllt, lässt sich recht solide aus Messungen des kosmischen Mikrowellenhintergrunds ableiten. Der Ursprung dieser Strahlung liegt rund 380.000 Jahre nach dem Urknall. Bei der Beobachtung extrem weit entfernter Galaxien im jungen Universum stimmen die erwarteten Verhältnisse noch. Nach einigen Milliarden Jahren scheint allerdings ein großer Teil der Materie zu fehlen. Die bislang gefundenen Gasmassen des intergalaktischen Mediums lieferten insgesamt nur rund vierzig Prozent der erwarteten Materie, so dass mit den Sternen und dem Gas in und um Galaxien nur sechzig Prozent der erwarteten Menge an Baryonen bekannt waren. Die Temperaturen des beobachteten intergalaktischen Gases lagen dabei bei bis zu einigen 100.000 Kelvin. Nun konnte ein internationales Astronomenteam um Fabrizio Nicastro vom astronomischen Observatorium in Rom den lange gesuchten Nachweis führen, dass noch heißeres intergalaktisches Gas wohl die fehlenden vierzig Prozent ausmacht. Damit sind alle theoretisch postulierten „Populationen“ baryonischer Materie endlich gefunden.
Die Forscher nutzten das ESA-Röntgenobservatorium XMM-Newton, um mit einer kumulierten Beobachtungszeit von 18 Tagen – die längste derartige je bewilligte Kampagne –, verteilt über einen Zeitraum zwischen 2015 und 2017, einen sehr hellen Quasar zu beobachten. Dabei maßen sie die Absorption der Röntgenstrahlung des Quasars durch dazwischen liegendes intergalaktisches Gas. Die exakte Rotverschiebung des Quasars ist nicht bekannt, muss aber ein Stück weit über 0,4 liegen, da Lymann-Alpha-Linien von absorbierendem Wasserstoff ungefähr bei dieser Rotverschiebung vorliegen. Das Licht des Quasars war über vier Milliarden Jahre bis zu uns unterwegs.
Im Spektrum fanden die Forscher bei zwei verschiedenen Rotverschiebungen die Absorptionslinien von hochgradig ionisiertem Sauerstoff, der auf entsprechende Reservoire an sehr heißem Gas hinweist. Diese Komponente von Gasmassen bei rund einer Millionen Kelvin und darüber waren bei früheren Kartierungen unsichtbar geblieben. Das liegt daran, dass der größte Teil dieses Gases aus ionisiertem Wasserstoff besteht, der sich im Signalrauschen versteckt. Da das intergalaktische Gas aber einen gewissen Austausch mit Galaxien hat, finden sich in ihm auch schwerere Elemente wie der nun nachgewiesene Sauerstoff.
Abb.: Die nun nachgewiesene heiße Komponente der intergalaktischen Materie macht rund 40 Prozent aller Baryonen aus. (Bild: ESA)
Natürlich ist die Messung an zwei Punkten in den unbeschreiblichen Weiten des Alls kein Beweis dafür, dass überall die passende Menge an Baryonen vorliegt. Eine ganze Reihe weiterer Beobachtungen wird notwendig sein, um einerseits diesen Befund zu erhärten und andererseits Daten über die räumliche Varianz der kosmischen Materiehäufigkeit zu liefern. Die Forscher gehen aber davon aus, dass sich am grundlegenden Befund nichts ändern wird. „Das, was wir gesehen haben, bestätigt sehr schön die theoretischen Annahmen und Erwartungen aus hydrodynamischen Simulationen zur Strukturenentstehung im Universum“, sagt Nicastro.
Als nächstes wollen die Forscher sieben weitere Sichtlinien zu anderen Quasaren eingehend untersuchen, auch mit Hilfe optischer Großteleskope. Dabei ist unter anderem die Fragestellung interessant, inwieweit Wechselwirkungen zwischen dem intergalaktischen Gas und demjenigen in Galaxien bestehen und zu wieviel Austausch es zwischen diesen Populationen kommt.
XMM-Newton ist mittlerweile ein Urgestein der Röntgenastronomie und ebenso wie Chandra schon seit 1999 im All. Ende dieses Jahres wird XMM-Newton aber in Rente gehen. Einen deutlich genaueren und tieferen Blick ins All als die jetzigen Weltraum-Observatorien wird der Röntgensatellit Athena liefern. Die ESA plant, Athena 2028 ins All zu schießen. Dank einer sehr scharfen Energieauflösung und einer hohen effektiven Sammelfläche wird das Röntgenkalorimeter von Athena unter anderem die physikalischen, chemischen und dynamischen Eigenschaften der intergalaktischen Baryonen mit unübertroffener Güte untersuchen können. Die Wissenschaftler erhoffen sich hiervon nicht nur eine höhere Präzision in der Beschreibung der intergalaktischen Materie, sondern auch Rückschlüsse auf die Wechselwirkung zwischen dieser Materie und den Materieströmen in Galaxien.
Dirk Eidemüller
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