Festgefahrene Materiewellen
Ultrakalte Atome in dreidimensionalen ungeordneten Lichtpotentialen zeigen Anderson-Lokalisierung.
Welchen Einfluss Unordnung auf die Ausbreitung von Wellen in einem physikalischen Medium hat, untersuchte der spätere Nobelpreisträger Phil Anderson schon vor über 50 Jahren. In zwei- und dreidimensionalen ungeordneten Systemen können sich Wellen nicht beliebig weit ausbreiten – sie sind lokalisiert. Doch in drei Dimensionen ist ihr Verhalten komplizierter. Jetzt haben Forschungsgruppen in den USA und in Frankreich mit ultrakalten Atomen die Anderson-Lokalisierung in 3D studiert.
Abb.: Das ungeordnete Speckle-Muster lokalisiert die Atome, deren Energie unterhalb der Mobilitätskante liegt (blau), während die Atome mit einer höheren Energie (rot) sich ungehindert ausbreiten. (S. S. Kondov et al., Science)
Breitet sich ein Wellenpaket in einem ungeordneten Medium aus, so wird es vielfach reflektiert und es entsteht ein kompliziertes Interferenzmuster. In ein- oder zweidimensionaler Unordnung klingt dieses Interferenzmuster mit zunehmendem Abstand vom Startpunkt des Wellenpakets schnell ab. Das Wellenpaket ist lokalisiert. Diese Lokalisierung hat nichts damit zu tun, dass sich das Wellenpaket in einem Potentialminimum fängt, da sie auch für Wellen mit beliebig hoher Energie auftritt. In dreidimensionaler Unordnung können sich Wellen mit einer hinreichend kleinen Wellenlänge oder großen Energie unbegrenzt ausbreiten, während Wellen mit einer Energie unterhalb der „Mobilitätskante“ wiederum lokalisiert sind
Diese Anderson-Lokalisierung hat man für Schall-, Licht- und Materiewellen nachgewiesen. Normalerweise wechselwirken weder Schall- noch Lichtwellen miteinander, wie man das für die Anderson-Lokalisierung voraussetzt. Bei den früher untersuchten Materiewellen ultrakalter atomarer Bose-Einstein-Kondensate musste man die Wechselwirkung der Atome gezielt unterdrücken. Dabei hatte man beobachtet, dass die Materiewellen in einer Dimension exponentiell lokalisiert waren, d. h. dass die Atomdichte in der Atomwolke von deren Zentrum aus exponentiell mit einer charakteristischen Lokalisierungslänge abfiel, wie es die Theorie vorhersagt.
Jetzt haben Forscher um Brian DeMarco von der University of Illinois sowie Alain Aspect und seine Kollegen vom Laboratoire Charles Fabry die Anderson-Lokalisierung der Materiewellen von ultrakalten Atomen in einem dreidimensionalen Speckle-Muster eines Lasers untersucht. Die französischen Forscher verwendeten ein dünnes Bose-Einstein-Kondensat aus Rubidium-Atomen, die nur schwach miteinander wechselwirkten. DeMarco und seine Kollegen nahmen ein spinpolarisiertes Gas aus fermionischen Kaliumatomen. Die Fermi-Statistik der Atome spielte bei diesem Experiment nur insoweit eine Rolle, als dass das Pauli-Verbot die Wechselwirkung der Atome durch Kollisionen verhinderte.
Beide Forschergruppen hielten ihre Atomwolke zunächst in einer optischen Falle fest und kompensierten das Schwerefeld mit Hilfe eines Magnetfeldgradienten. Dann schalteten sie die Falle aus und den Laser ein, dessen Strahl auf ein Hologramm bzw. eine Mattglasplatte fiel und dadurch die Atomwolke in ein Speckle-Muster tauchte. Dieses Zufallsmuster aus hellen und dunklen Bereiche hatte eine Intensitätsverteilung mit gaußscher Korrelation. Indem die Atome den hellen Bereichen auswichen, bewegten sie sich in einem ungeordneten optischen Potential in drei Dimensionen.
Anschließend verfolgten die Forscher, wie sich die Atome im Speckle-Muster ausbreiteten. Dabei stellten sie fest, dass eine Komponente der Atomwolke expandierte und ein gaußsches Dichteprofil aufwies. Der Rest der Atome hatte sich im ungeordneten optischen Potential „festgefahren“. Ihre Materiewellen waren lokalisiert. DeMarco und seine Kollegen konnten in der Raumrichtung parallel zum Laserstrahl direkt den exponentiellen Abfall der atomaren Dichte beobachten. Dabei betrug die Lokalisierungslänge je nach Temperatur der Wolke und Stärke der Unordnung zwischen 75 µm und 200 µm. In der dazu senkrechten Ebene war die Wolke schon zu Beginn viel größer als die Lokalisierungslänge, sodass das exponentielle Lokalisierungsprofil verborgen blieb.
Beide Gruppen zeigten, dass der Anteil der lokalisierten Atome mit der Stärke des Unordnungspotentials zunahm, die sie dadurch vergrößerten, dass sie die Laserintensität erhöhten. Dabei konnten DeMarco und seine Mitarbeiter bei einer Temperatur der Atomwolke von 240 nK fast alle Atome lokalisieren. Aus dem gemessenen Anteil lokalisierter Atome ermittelten sie die Mobilitätskante Ec, in Abhängigkeit von der Temperatur des Gases und der Stärke der Unordnung W. Für W ≥ kB 80 nk ergab sich ein einfaches Potenzgesetz: Ec ∝ W0,6, das von bisherigen theoretischen Vorhersagen abwich.
Da man die ultrakalten Atome wie auch die Unordnung des Speckle-Musters sehr gut unter Kontrolle hat, kann man an ihnen die Anderson-Lokalisierung in drei Dimensionen sehr genau studieren und Licht auf noch offene Fragen werfen. So wollen DeMarco und seine Kollegen untersuchen, wie die Lokalisierungslänge bei Annäherung an die Mobilitätskante divergiert und welchen Einfluss eine Wechselwirkung zwischen den Atomen auf die Lokalisierung hat.
Rainer Scharf
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