Flüssigkeit mit Ecken
Ein neues Modell erklärt, warum ein auf einer Oberfläche auseinanderströmendes Fluid einen vieleckigen hydraulischen Sprung bilden kann.
Physikalische Phänomene kann man auch in der Küchenspüle beobachten: Trifft ein Wasserstrahl auf dem Spülenboden auf, so fließt das Wasser um den Punkt herum, an dem es auftrifft, zunächst schnell ab. In einem bestimmten Abstand steigt der Wasserpegel jedoch sprunghaft an, weil sich die Fließgeschwindigkeit verringert. Dieser so genannte hydraulische Sprung kann, wenn der Spülenboden waagerecht und eben ist, sogar die Form eines exakten Kreises annehmen. Dass sich aus dieser Kreisform unter bestimmten Bedingungen allerdings auch Vielecke ausbilden, etwa Dreiecke, Fünfecke oder Achtecke, haben Forscher im Labor erst vor einigen Jahren entdeckt. Nun haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Stelbstorganisation gemeinsam mit Kollegen aus Dänemark und Japan erstmals ein theoretisches Modell entwickelt, das die grundlegenden Mechanismen dieses erstaunlichen Strömungsphänomens beschreibt.
Im Jahr 1997 haben Wissenschaftler bei Experimenten den Flüssigkeitspegel jenseits der Sprungstelle erhöht, indem sie den Flüssigkeitsstrahl auf eine runde Platte fließen ließen, die durch eine schmale Wand begrenzt wurde. Die Höhe der Wand über der Platte konnten die Forscher verstellen und so kontrollieren, wie hoch sich die Flüssigkeit jenseits des hydraulischen Sprungs aufstaute.
Ab einem bestimmten Flüssigkeitspegel verlor der hydraulische Sprung seine Kreisform, es entwickeltenn sich Ecken und ein erstaunliches neues geometrisches Muster entstand: ein regelmäßiges Vieleck. Experten nennen dieses Phänomen polygonalen hydraulischen Sprung. In Abhängigkeit vom Pegelstand und der Flussgeschwindigkeit haben die Forscher zum Beispiel Dreiecke, Fünfecke oder eben Achtecke beobachtet – und festgestellt, dass bis zu 14 Ecken möglich sind.
Obwohl dieses Strömungsphänomen relativ einfach ist, gibt es bisher kein theoretisches Modell, das die experimentellen Beobachtungen exakt beschreibt. Nun haben Physiker des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, der Technischen Universität von Dänemark und der Ibaraki Universität in Japan erstmals ein umfangreiches Modell für polygonale hydraulische Sprünge entwickelt.
Abb.: Wie ein polygonaler hydraulischer Sprung entsteht: Der normale hydraulische Sprung wird von einem hinter ihm liegenden ringförmigen Wirbel erzeugt, der sich im Uhrzeigersinn. Ab einem gewissen Flüssigkeitsstand jenseits des Sprungs bildet sich ein zweiter Wirbel der darüber liegt und sich in entgegengesetzter Richtung dreht (oben). So können sich Vielecke bilden (unten). (Bild: E. A. Martens)
Beim normalen kreisförmigen hydraulischen Sprung breitet sich die Flüssigkeit, wenn der Strahl auf den Boden auftrifft, zunächst mit einer Geschwindigkeit aus, die als superkritisch bezeichnet wird: Das Fluid bewegt sich schneller als sich darauf Störungen in Form von Oberflächenwellen fortpflanzen können; kleinere Störungen bewegen sich nur stromabwärts und klingen schnell aus.
Mit zunehmendem Abstand vom Auftreffpunkt des Strahls verringert sich die Fließgeschwindigkeit, und es kommt in Folge dessen in einem bestimmten Abstand, zu einem plötzlichen Anstieg des Fluidpegels, also zum hydraulischen Sprung. Denn hinter dem Sprung entsteht ein Wirbel, der den hydraulischen Sprung wie ein Ring umgibt und sich wie eine ringförmige Walze im Uhrzeigersinn dreht. Die Strömungsgeschwindigkeit bezeichnen Experten nun als subkritisch: Störungen in Form von Wellen können sich in beide Richtungen ausbreiten.
Wird der Fluidpegel nun über ein bestimmtes Maß erhöht, bildet sich über diesem Wirbel eine Gegenströmung aus, die einer Brandungswelle ähnlich ist. Die Flüssigkeit schwappt nach innen. Es entsteht ein zweiter ringförmiger Wirbel in Gegenrichtung zum ersten, darunter liegenden Wirbel. Hieraus kann sich nun ein Vieleck bilden.
Abb.: Ein dreieckiger hydraulischer Sprung von unten gesehen: In der Mitte trifft der Flüssigkeitsstrahl auf die Glasplatte. Roter Farbstoff macht den zweiten Wirbel sichtbar, der sich um den hydraulischen Sprung bildet und diesem seine eckige Form gibt. Der erste Wirbel, der den hydraulischen Sprung an sich erzeugt, ist nicht eingefärbt und daher nicht zu sehen. (Bild: E. A. Martens, APS)
In früheren Erklärungsansätzen versuchten Forscher die Bildung des hydraulischen Sprungs nach der Bildung des zweiten Wirbels als Ergebnis des Wechselspiels zwischen der inneren Reibung, also der Viskosität, und der Schwerkraft des Wassers nach innen, also des hydraulischen Drucks, zu erklären. Warum sich dabei Polygone entwickeln, konnte damit jedoch nicht beantwortet werden. Einen weiteren Baustein lieferte der Effekt der Oberflächenspannung, also die Berücksichtigung der Bindungskräfte der Flüssigkeitsmoleküle an der Oberfläche. Insbesondere stellten Wissenschaftler fest, dass der Mechanismus, der zu der Vieleck-Form führt, Ähnlichkeit mit der so genannten Rayleigh-Plateau-Instabilität hat.
Auch diese ist im Alltag leicht zu beobachten: Aus einem Hahn fließt ein dünner Wasserstrahl. Ab einer gewissen Strahllänge bricht dieser in eine Tropfenkette auf. Sie entsteht, weil Störungen, die im oberen Teil des Wasserstrahls zunächst nicht sichtbar sind, weiter unten von der Oberflächenspannung verstärkt werden – was schließlich zum Aufbrechen des Strahls und zur Entstehung von Wassertropfen führt. Beim hydraulischen Sprung können, ähnlich wie in einem dünnen Wasserstrahl, kleine Störungen in der Form des kreisförmigen Wirbels durch die Oberflächenspannung des Fluids verstärkt werden, was schließlich zur Ausbildung der Ecken führt.
Das Modell der Forscher rund um Erik A. Martens vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation kombiniert nun die Aspekte der beiden früheren Erklärungsansätze: hydraulischer Druck, Viskosität und Oberflächenspannung. „Wir können damit die grundlegenden Mechanismen beschreiben, die zur Instabilität des kreisförmigen hydraulischen Sprungs und zur Ausprägung eines Vielecks führen“, sagt Erik A. Martens.
MPG / PH