10.08.2007

Freie Energie einzelner Biomoleküle

Mithilfe der Jarzynski-Gleichung lässt sich die freie Energie von Titin-Molekülen bestimmen, die für die Funktion des Herzmuskels verantwortlich sind.



Mithilfe der Jarzynski-Gleichung lässt sich die freie Energie von Titin-Molekülen bestimmen, die für die Funktion des Herzmuskels verantwortlich sind.

Mikroskopische Objekte wie etwa einzelne Biomoleküle sind thermischen Schwankungen in viel stärkerem Maße ausgesetzt als makroskopische Systeme. Im thermodynamischen Nichtgleichgewicht gehalten, können sie ungeordnete molekulare Schwankungen in gerichtete Bewegungen umwandeln, wie das Beispiel der biomolekularen Motoren zeigt. Die Untersuchung dieser Biomoleküle hat in den letzten Jahren sowohl durch experimentelle als auch durch theoretische Fortschritte einen enormen Schub bekommen. Diese Fortschritte haben Forscher der Rice University jetzt genutzt, um die freie Energie von Titin-Molekülen zu bestimmen, die für die Funktion des Herzmuskels verantwortlich sind.

Im Experiment ist es inzwischen möglich, einzelne kettenförmige Biomoleküle an ihren Enden zu packen und unter Messung der dazu nötigen Kraft in die Länge zu ziehen. Dabei entfalten sich die Moleküle schrittweise. Auf diesem Wege erhält man Informationen über das Verhalten und die Funktionsweise der Biomoleküle. Ching-Hwa Kiang und ihre Mitarbeiter haben einzelne Moleküle, die aus acht aneinanderhängenden Titin-I27-Abschnitten bestanden, an beiden Enden fixiert und in wässriger Lösung mit einem Rasterkraftmikroskop auseinander gezogen. Jedes Mal wenn sich ein Abschnitt entfaltete, nahm die gemessene Kraft, die im Bereich von etwa 150 pN lag, plötzlich zu, um dann rasch wieder abzufallen.

Es musste offenbar eine Energiebarriere überwunden werden, um solch einen Titin-Abschnitt von seinem gefalteten Anfangszustand in den entfalteten Endzustand zu bringen. Waren der Anfangs- und der Endzustand des Moleküls im thermischen Gleichgewicht mit der wässrigen Lösung, so ergab sich die zu überwindende Barriere aus der Differenz der Gibbsschen freien Energien des gefalteten und des entfalteten Zustands. Diese freien Energien konnten jedoch nicht direkt gemessen werden. Stattdessen maßen die Forscher die zeitabhängige Kraft, die nötig war, um das Molekül mit konstanter Geschwindigkeit zu dehnen. Daraus bestimmten sie die Arbeit, die aufgewendet werden musste, um das Molekül zu entfalten.

Es zeigte sich, dass die zur Entfaltung ein und desselben Moleküls aufzuwendende Arbeit von Experiment zu Experiment stark schwankte und zudem von der Dehnungsgeschwindigkeit abhing. Eine einfache Mittelung über die gemessenen Arbeitswerte gab kein brauchbares Ergebnis für die Energiebarriere. Das ist auch nicht verwunderlich, denn durch die Dehnung wird das Molekül aus dem thermischen Gleichgewicht gebracht. Die Dehnungsarbeit verbindet also den anfänglichen Gleichgewichtszustand mit einem Nichtgleichgewichtszustand, während die Energiebarriere sich auf zwei Gleichgewichtszustände bezieht. Einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt eine von Christopher Jarzynski aufgestellte Gleichung.

Jarzynski konnte zeigen, dass ein bemerkenswerter Zusammenhang besteht zwischen dem exponentiellen Mittelwert der Arbeit, um vom Gleichgewichtszustand A zum Nichtgleichgewichtszustand B’ zu kommen, und der Exponentialfunktion der Differenz der freien Energien der Gleichgewichtszustände A und B, wobei B sich durch Relaxation aus B’ entwickelt: exp(–β ΔG) = < exp(–β ΔW)>. Dabei ist 1/β=k BT. Der Mittelwert wird für eine große Zahl von experimentellen Realisierungen berechnet, bei denen sich zwangsläufig unterschiedliche Nichtgleichgewichtszustände B’ ergeben.

Wie Ching-Hwa Kiang und ihre Mitarbeiter gefunden haben, lässt sich mithilfe der Jarzynski-Gleichung aus der aufgewendeten Arbeit tatsächlich berechnen, wie sich die freie Energie der Titin-Moleküle ändert, wenn sie um die Strecke d gedehnt werden. Trotz großer Schwankungen der gemessenen Arbeit ergab sich für ΔG(d) eine eindeutige Kurve, die nun auch unabhängig von der Dehnungsgeschwindigkeit war. Die Energiebarriere zwischen ge- und entfaltetem Zustand des Moleküls ergab sich aus ΔG(L), wobei L die Dehnung war, bei der das Molekül „nachgab“ und die zur Dehnung nötige Kraft plötzlich stark abfiel. Die Forscher von der Rice University hoffen, mit ihrer Methode noch weitergehende Einblicke in die Energie und das Faltungsverhalten von Biomolekülen gewinnen zu können. Experimentelle Fortschritte sowie Verallgemeinerungen der Jarzynski-Gleichung könnten dies möglichen machen.

Rainer Scharf

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