08.06.2016

Geometrie von Energiebändern direkt gemessen

Wilson-Linien charakterisieren Band­geo­metrie und -topo­logie in künst­lichen Materialien.

Obwohl die Geometrie und Topologie elektronischer Bänder von zentraler Bedeutung für viele Gebiete der Fest­körper­forschung sind, stellt ihre direkte Messung eine experi­mentelle Heraus­forderung dar. Ein inter­nationales Forscher­team präsentiert jetzt eine verblüffend einfache Methode zur direkten Messung der Geometrie elek­tronischer Bänder mit Hilfe ultra­kalter Atome in optischen Gittern. Die Methode verbindet die direkte Kontrolle über die Impulse der Atome mit Methoden der Atom­inter­fero­metrie und stellt einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Charak­teri­sierung geometrischer und topo­logischer Phänomene in künst­lichen Band­strukturen dar.

Abb.: Analog zum kräftigen Ziehen an einem Teppich beschleunigen die Forscher das gesamte Gitter. Dadurch wirkt auf die Atome eine Träg­heits­kraft. Je größer diese Kraft ist (2, 3), desto schneller bewegen sich die Atome im Impuls­raum des Kristalls, und desto geringer wird der Einfluss der Band­energien. Bei Anwendung der größten Kraft kann er schließlich ganz ver­nach­lässigt werden (3). (F: Kraft, d: Abstand benach­barter Gitter­plätze; Bild: MPQ).

Viele fundamentale Phänomene der Festkörperphysik, zum Beispiel die Unter­schiede zwischen Metallen und Iso­la­toren, können allein mit Hilfe des Bänder­modells der elektro­nischen Energie­zustände verstanden werden. Zusätz­lich zu den Energien spielt auch die Geo­metrie der Bänder eine zentrale Rolle. Viele exotische Effekte neu­artiger Materi­alien wie Graphen beruhen direkt auf den geome­trischen Eigen­schaften der Energie­bänder. Topo­lo­gische Eigen­schaften bilden darüber hinaus den Ausgangs­punkt für mögliche neue Techno­logien wie die Spin­tronik oder topo­lo­gische Quanten­computer. Gleich­zeitig sind sie in typischen Fest­körpern jedoch experi­mentell nur indirekt nach­weisbar.

Den Forschern von der Uni München und dem MPI für Quanten­optik in Garching ist es jetzt gelungen, die Geometrie elektro­nischer Bänder direkt zu messen. Dazu benutzten sie ultra­kalte Atome in optischen Gittern. Das sind perfekte künst­liche Kristalle, die durch die Über­lagerung mehrerer Licht­wellen erzeugt werden. Die Dynamik dieses Systems wird durch Wilson-Linien beschrieben. Diese wurden ursprüng­lich im Kontext der Quanten­chromo­dynamik in der Hoch­energie­physik einge­führt. Doch es zeigte sich schnell, dass sie generell dazu verwendet werden können, die Entwick­lung ent­arteter Quanten­zustände zu charak­te­risieren. Bezogen auf die Fest­körper­physik beschreiben sie direkt die geome­trische Struktur der Energie­bänder. Es stellt sich aller­dings das Problem, dass die Energie­bänder in einem Fest­körper normaler­weise nicht ent­artet sind. Die Forscher umgingen dieses Problem mit einem Trick: Wenn die Atome stark genug beschleunigt werden und die Dynamik sehr schnell erfolgt, dann wird der Einfluss der Band­energien sehr klein und kann ver­nach­lässigt werden. In diesem Regime verhalten sich zwei Bänder mit verschiedenen Energien so als wären ihre Energien gleich und die Dynamik ist nur noch durch die geome­trischen Effekte bestimmt.

Abb.: Die Forscher überlagerten drei Laser­strahlen unter einem Winkel von 120 Grad, um ein Graphen-ähnliches hexa­gonales Gitter zu erhalten. Die Atome werden in den Minima des Potentials (dunkel­blau) gefangen. (Bild: MPQ)

Die Forscher kühlten die Atome zunächst in den Zustand eines Bose-Einstein-Kondensats und luden sie dann in ein optisches Gitter. Damit kreierten sie ein künst­liches System, welches das Verhalten von Elektronen in Fest­körpern genau nach­stellt und gleich­zeitig frei von vielen typischen Kompli­kationen ist. Die künst­lichen Gitter besitzen nicht nur eine außer­ge­wöhnlich hohe Rein­heit ohne jegliche Gitter­fehler, sie bieten darüber hinaus eine hohe Flexi­bi­lität: verschiedene Gitter­typen können direkt durch Verände­rungen von Intensität und Polari­sation der einzelnen Laser­strahlen erreicht werden. In ihrem Experiment über­lagerten die Forscher drei Laser­strahlen so, dass ein graphen­artiges hexa­gonales Gitter entstand.

Unter diesen Bedingungen ist der Ort der Atome nicht fest­gelegt, sie sind viel­mehr über alle Gitter­plätze deloka­lisiert. Dagegen ist der Impuls der ent­arteten Atome sehr genau bestimmt. Die Wissen­schaftler beschleunigten die Atome schnell auf einen höheren Impuls und unter­suchten die dabei erzeugten Anregungen in ein höheres Band. Wenn die Beschleunigung schnell genug abläuft, so dass das System über die Wilson-Linien beschrieben werden kann, zeigt diese einfache Messung, wie sich die elektro­nischen Wellen­funktionen des Systems für den ersten und zweiten Impuls von­ein­ander unter­scheiden. Wieder­holt man diese Messung für viele verschiedene Impulse im Kristall, dann erhält man eine voll­ständige Karte der Änderungen der Wellen­funktion für den gesamten Impuls­raum des künst­lichen Fest­körpers.

Die Forscher zeigten damit nicht nur, dass es möglich ist, ultra­kalte Atome auf eine Art zu bewegen, die durch Zwei-Band-Wilson-Linien beschrieben werden kann. Darüber hinaus bestimmten sie sowohl die lokalen geome­trischen Eigen­schaften als auch die globale topo­lo­gische Struktur der benutzten Energie­bänder. Während diese im hexa­gonalen Gitter bekannter­maßen topo­logisch trivial sind, zeigen die Ergebnisse, dass Wilson-Linien dazu verwendet werden können, die Band­geo­metrie und -topo­logie in künst­lichen Materialien zu charak­teri­sieren.

MPQ / RK

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