14.05.2009

Granulat-Stau mit Vorankündigung

Im Gegensatz zu Granulaten stauen sich Kolloide nicht, zeigen aber eine bisher übersehene Vorform von Staus



Im Gegensatz zu Granulaten stauen sich Kolloide nicht, zeigen aber eine bisher übersehene Vorform von Staus

Selbst wenn sie beide aus kugelförmigen Teilchen bestehen, gibt es zwischen einem Granulat und einem Kolloid einen entscheidenden Unterschied: Die mikroskopisch kleinen Kolloidpartikel sind unablässig in Bewegung, während die viel größeren Granulatteilchen schnell zur Ruhe kommen. Das Kolloid hat eine Temperatur T, die sein Verhalten beeinflusst, wohingegen für das Granulat die Temperatur der Körner praktisch keine Rolle spielt. Ein Granulat ist gewissermaßen ein Kolloid im Tieftemperaturzustand mit T=0. Aufgrund dieses Zusammenhangs zeigen Kolloide Spuren eines Verhaltens, wie man es eigentlich nur von Granulaten kennt. Das haben Forscher der University of Chicago jetzt beobachtet.

Beim Transport von Granulaten sind Staus eine lästige und bisweilen gefährliche Begleiterscheinung: Das Frühstücksmüsli will nicht durch die Kartonöffnung rieseln oder das Getreide setzt sich im Schütttrichter eines Silos fest. Da hilft es oft, wenn man das Granulat ein wenig schüttelt. Damit gibt man ihm Bewegungsenergie und erhöht vorübergehend seine „Temperatur“, so dass es wie ein Kolloid fließen kann. Zum Stau kommt es in einem Granulat, wenn jedes Körnchen so viele Nachbarkörnchen berührt, das es in einer mechanisch stabilen Lage ist. Das kann man durch Verdichtung des Granulats erreichen. Bei einer kritischen Packungsdichte µc geht dann plötzlich nichts mehr und der Stau ist da. In einem Kolloid kommen die zwischen ihren Nachbarn eingeklemmten Partikel aufgrund der thermischen Bewegung irgendwann doch wieder frei.

Sidney Nagel und seine Mitarbeiter haben untersucht, ob sich in Kolloiden Spuren von (letztlich nicht auftretenden) Staus finden lassen und ob solche „Vor-Staus“ etwas mit dem Glasübergang zu tun haben, bei dem ein Kolloid durch Abkühlung in einem ungeordneten Zustand „einfriert“. Ihre Experimente haben die Forscher an zwei Kolloiden durchgeführt, einem realen und einem virtuellen. Das reale Kolloid bestand aus einer Mischung von mikroskopisch kleinen Gelpartikeln von 1,17 µm und 1,63 µm Durchmesser bei 20 °C, die in Wasser schwammen. Bei Erhöhung der Temperatur dehnten sich die Kügelchen aus und die Packungsdichte nahm zu. Das virtuelle Kolloid war dreidimensional und wurde im Computer simuliert. Seine Partikel stießen sich ab, wenn sie einander zu nahe kamen.

Im realen wie im virtuellen Kolloid wurden die Bewegungen der Teilchen verfolgt. Dabei variierten die Forscher die Packungsdichte µ in einem Intervall um µc ≈ 0,84, der kritischen Packungsdichte eines sich stauenden Granulats. In einem Kolloid kann µ auch oberhalb dieses Wertes liegen, da sich die Kolloidpartikel zusammendrücken lassen und dann gewissermaßen überlappen. Bei der kritischen Packungsdichte µc schien auf den ersten Blick nichts Besonderes mit dem Kolloid zu passieren, das weiterhin beweglich blieb. Doch die Forscher schauten genauer hin und berechneten die Zweiteilchenkorrelationsfunktion g(r). Sie gibt die Wahrscheinlichkeit an, in einem Abstand r von einem Teilchen ein weiteres zu finden. In einem Granulat springt g(r) bei Erreichen der kritischen Packungsdichte auf einen unendlich hohen Wert, wenn r dem Kugeldurchmesser entspricht.

Als die Forscher g(r) für ihre realen und virtuellen Kolloide untersuchten, deren Packungsdichte µ sie langsam von 0,76 bis 0,93 änderten, trat bei µc zwar keine Singularität auf wie im Fall eines Granulats, aber immerhin ein deutliches Maximum. Wurde die Temperatur des virtuellen Kolloids verringert, so wuchs dieses Maximum schnell an und strebte gegen einen unendlichen Wert zu. Die Details hingen dabei von der Form der Kraft ab, mit der sich die Partikel des virtuellen Kolloids abstießen. Erstaunlicherweise hat man bei früheren Kolloidexperimenten und -simulationen dieses auffällige Verhalten von g(r) an der kritischen Packungsdichte µc nicht beobachtet, vermutlich weil man meist die Temperatur variiert hat und nicht µ. Wenn man also nur genau genug hinschaut, findet man im Kolloid Spuren des Verhaltens, das sich im Granulat als Stau manifestiert.

Gibt es einen Zusammenhang des „Vor-Staus“ im Kolloid mit dem Glasübergang eines Kolloids, bei dem die Dynamik der Kolloidpartikel immer langsamer wird und schließlich einfriert? Das haben die Forscher sowohl am realen wie am virtuellen Kolloid untersucht. Dabei haben sie gefunden, dass die Relaxationszeit des Kolloids, also die Zeitskala auf der äußere Störungen abklingen, immer länger wird, wenn man sich der kritischen Packungsdichte annähert. Anhand des virtuellen Kolloids konnten sie jedoch zeigen, dass dies nur eine zufällige Übereinstimmung zu sein scheint. Bei Änderung der Temperatur verschwand diese Koinzidenz nämlich. Der „Vor-Stau“ im Kolloid scheint demnach nicht direkt für den Glasübergang verantwortlich zu sein.

RAINER SCHARF


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