Graphen: mehr als nur zweidimensional
Mechanische Eigenschaften des nur eine Atomlage dünnen Stoffes zeigen dreidimensionales Verhalten.
In Stoffen wie Graphen, die nur eine Atomlage aufweisen, können sich Elektronen nur innerhalb einer Ebene bewegen. Das führt zu interessanten Effekten bei der elektronischen und auch bei der thermischen Leitfähigkeit. Bei den mechanischen Eigenschaften hingegen gestaltete sich die Lage anders: Auch wenn Graphen hauchdünn ist, so kann es nach dem Mermin-Wagner-Theorem kein rein zweidimensionaler Stoff sein. Auch Atome haben ihre räumlichen Abmessungen und aus der Ebene herausragende Atomorbitale wechselwirken miteinander. Die Bestimmung der entsprechenden Materialkonstanten hat sich bislang jedoch als sehr aufwändig herausgestellt. Wie ein internationales Forscherteam um Yiwei Sun von der Queen Mary University in London jetzt herausgefunden hat, ist Graphen als Festkörper aber doch gewöhnlicher als gedacht und zeigt typisch dreidimensionale Eigenschaften.
Die Schwierigkeit bei solchen Messungen besteht darin, einen maximal dünnen Stoff überhaupt kontrolliert mechanischen Belastungen auszusetzen. Bei früheren Experimenten hat man Graphen auf ein Substrat aufgebracht und dieses dann einer mechanischen Spannung ausgesetzt. Das hat den Vorteil, dass man die Dehnbeanspruchung des Graphens aus den bekannten Parametern des Experiments ableiten kann. Der Nachteil liegt darin, dass man auf diese Weise die mechanische Spannung, der das Graphen ausgesetzt ist, nicht direkt bestimmen kann.
Die Forscher um Sun haben deshalb eine neue Methode entwickelt, um dieses Problem anzugehen: Sie gaben kleine Graphenflocken in Lösung. In einer Diamantstempelzelle setzten sie diese dann unter einen sehr hohen Druck von etwa zwölf Gigapascal. Die viskose Lösung hielt die Graphenflocken lange genug für die Messungen davon ab, miteinander zu verklumpen oder sich zu verknittern, was die Ergebnisse verfälscht hätte.
Bei diesem hohen Druck nutzten die Forscher dann Raman-Spektroskopie, um die Vibrationsmoden des Graphens zu analysieren. Dabei konnten sie unter anderem beobachten, dass sich die Schwingungen bei stärkerem Druck zu höheren Werten verschoben – ähnlich wie bei dreidimensionalen Stoffen. Dieses Verhalten entspricht einer Elastizitätskonstanten für die Richtung senkrecht zur Ebene – so, als würde Graphen unter Druck dünner werden. Etwas salopp gesagt, verhält sich Graphen mechanisch gesehen also eher wie Kartonpappe als wie Papier.
Die Wissenschaftler begannen mit Graphen, das mit Hilfe von Dampfphasenabscheidung auf einem Kupfersubstrat fixiert war. Das Kupfer ätzten sie dann weg, nachdem sie das Graphen mit einem Polymerfilm bedeckt hatten. Dann entfernten sie zunächst das Ätzmittel und auch den Polymerfilm, so dass nun einlagiges Graphen in Lösung vorlag. „Daran konnten wir nun erstmals den Effekt von Druck auf frei vorliegendes Graphen studieren“, sagt Sun.
Nach diesen Messungen ändern sich die mechanischen Eigenschaften von Graphen mit einer ähnlichen Rate wie die von Graphit. Die Steifigkeit und Anharmonizität weisen vergleichbare Werte auf. Das steht in Widerspruch zu früheren Messungen, die an Graphen auf einem Substrat durchgeführt wurden. Offenbar hatte man dabei den Effekt falsch eingeschätzt, der durch die Bindung des Graphens auf dem Substrat zustande kam und der die Kontraktion des Graphens stark beeinflussen kann.
Aus atomphysikalischer Hinsicht liegt die Erklärung für dieses Verhalten auf der Hand: Jedes Atom besitzt Elektronen-Orbitale wie das 2pz-Orbital, die über und unter die Graphen-Ebene hinausragen. Diese Orbitale bewirken bei Kompression eine Gegenkraft, so dass selbst ein atomlagendünner Stoff wie Graphen nicht nur entlang seiner Ebene wie ein gewöhnlicher Festkörper auf mechanische Einflüsse reagiert.
Die mechanischen Eigenschaften von Graphen und ähnlichen Stoffen hängen aber auch von weiteren Faktoren ab, wie etwa der Luftfeuchtigkeit. Für Anwendungen in Alltagsprodukten wird es wichtig sein, dieses Verhalten abschätzen zu können. „Die Leistung eines graphenbasierten Gerätes könnte sich zwischen dem sehr feuchten Manchester in Nordengland und dem trockenen Arizona deutlich ändern“, erläutert Sun. Die Wissenschaftler wollen diese Abhängigkeit von Umweltbedingungen bei künftigen Untersuchungen an Graphen und Graphit genauer unter die Lupe nehmen.
Die neu entwickelte Methode lässt auch auf andere zweidimensionale Materialien anwenden. Es ist zu vermuten, dass sich die Beobachtungen der Wissenschaftler auch bei anderen Stoffen wiederholen. Die gewöhnlichen mechanischen Eigenschaften dreidimensionaler Körper wie etwa Kompressionsmodul sollten sich auch auf zweidimensionale Stoffe anwenden lassen. Auch die entsprechenden Modelle und Theorien könnten für atomlagendünne Materialien Anwendung finden.
Dirk Eidemüller
Weitere Infos
- Originalveröffentlichung
Y. W. Sun et al.: 3D Strain in 2D Materials: To What Extent is Monolayer Graphene Graphite?, Phys. Rev. Lett. 123, 135501 (2019); DOI: 10.1103/PhysRevLett.123.135501 - Division of Materials Engineering, School of Engineering and Materials Science, Queen Mary University of London, Großbritannien
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RK