11.06.2018

Halbgefrorene Spinflüssigkeit

Erstmals wurde die Koexistenz von flüssigen und gefrorenen Spinbereichen nachgewiesen.

In magne­tischen Materialien können Spins unter­schiedliche Zustände annehmen, die in Analogie zu Aggregat­zuständen oft als fest oder gasförmig und unge­ordnet bezeichnet werden. Zwischen­zustände von Spins, die den Zwischen­zuständen einer Flüssigkeit entsprechen würden, wären von besonderem Interesse, sind bislang jedoch kaum nachge­wiesen. Forscher des Augsburger Lehrstuhls für Experimental­physik VI/EKM berichten nun vom erstmaligen experimentellen Nachweis eines gemischt flüssigen und gefrorenen Spin­zustands, den sie unter hohem Druck in der Verbindung β-Li2IrO3 realisieren konnten.

Abb.: Analog zur Koexistenz von Eis und Wasser in der Arktis treten in β-Li2IrO3 unter hohem Druck Bereiche gefrorener und flüssiger Spins, also bewegliche und feste magnetische Momente, auf. (Bild: K. Hansen, NASA / Alaska Dispatch)

Bei hohen Tempera­turen ändern die Spins ständig ihre Ausrichtung und befinden sich in einem völlig ungeord­neten Zustand. Analog zum Konden­sieren und anschließenden Erstarren bei Abkühlung von Gasen, können auch Spins bei tiefen Tempera­turen in einen geordneten Zustand mit fester Ausrichtung einfrieren. Falls jedoch unter­schiedliche Wechsel­wirkungen zwischen den Spins nicht gleich­zeitig in einer festen Spinaus­richtung befriedigt werden können, ist theoretisch vorher­gesagt, dass sich bei dieser magne­tischen Frus­tration eine bis hinab zu tiefsten Tempera­turen stabile Spinflüssig­keit ausbildet. Dies ist ein Zustand, in dem die Spins zwar miteinander wechsel­wirken, aber keine feste Ordnung annehmen.

Theoretisch wurden verschiedene Wege vorge­schlagen, um Spinflüssig­keiten zu erzeugen. Bislang gibt es jedoch kaum praktische Umset­zungen. Im Jahr 2006 wurde vom mathematischen Physiker Alexei Kitaev ein viel­beachtetes Modell erdacht, welches eine neue Klasse von Spinflüssig­keiten mit interes­santen Eigen­schaften auch im Hinblick auf neuartige Anwendungen in der Quanten­informations­technologie bietet. Zahlreiche Arbeits­gruppen versuchen seither eine „Kitaev-Spin­flüssigkeit“ zu realisieren. Zwar gibt es mittler­weile eine Reihe von Verbindungen, welche die von Kitaev postu­lierte bindungs­richtungsabhängige magne­tische Wechsel­wirkung aufweisen, der Kitaev-Spinflüssig­keitszustand konnte jedoch nicht zweifelsfrei nachge­wiesen werden. Dies liegt daran, dass in der Realität zusätzliche, im Modell nicht enthaltene Wechsel­wirkungen einen festen Spin­zustand favo­risieren.

Das Augsburger Team hat nun durch Anlegen von Druck ein wichtiges Ergebnis erzielt. „Druck kann die Atom­positionen im Kristall und damit deren gegen­seitige Wechsel­wirkungen gezielt ändern. Magne­tische Wechsel­wirkungen sind besonders druck­empfindlich, daher sind Druckexperimente an Kitaev-Materialien besonders spannend“, sagt Alexander Tsirlin, Nachwuchsgruppen­leiter am Zentrum für Elektronische Korre­lationen und Magne­tismus des Augsburger Physik-Instituts. Für die Druck­experimente wurde die Verbindung β-Li2IrO3 ausgewählt, die in Augsburg in Form hoch­reiner Ein­kristalle hergestellt werden kann. Frühere Unter­suchungen zeigten bereits das Vorhan­densein der Kitaev-Wechsel­wirkung in diesem Material. Allerdings tritt bei Normal­druck keine Spin­flüssigkeit, sondern eine kompli­zierte magne­tische Ordnung auf. Das Team unter Leitung von Tsirlin und Philipp Gegenwart führte nun Druck­experimente bis zum 20.000-fachen des Atmosphären­drucks durch.

Eine sehr kompakte Druckzelle mit weniger als acht Millimeter Außen­durchmesser wurde für hoch­empfindliche Messungen der Magne­tisierung bis zu sehr tiefen Tempera­turen verwandt. Weitere Experimente wurden am Paul Scherrer Institut in der Schweiz durch­geführt. Bei diesen Experi­menten wurde das Proben­material innerhalb einer Druckzelle mit Myonen, die ein Spin­moment trugen, bombardiert. Die Polari­sation des Myonen­spins ist eine sehr empfind­liche Sonde lokaler Magnet­felder im Proben­material. Die Experimente mit Myonen am Paul Scherrer Institut bestätigten die bereits in Augsburg beobachtete Unter­drückung der magne­tischen Ordnung in β-Li2IrO3 unter hohem Druck, die auf die Bildung einer Spin­flüssigkeit hindeuten könnte. Die detail­lierte Auswertung ergab jedoch zur Über­raschung des Forscher­teams, dass eine Koexistenz, vermut­lich auf Nanometer-Skala, von flüssigen und gefrorenen Bereichen vorliegt.

Das Ausfrieren einer Spin­flüssigkeit kann durch Unvoll­kommenheiten im Material, also durch Gitter­defekte verursacht werden. Die Arbeits­gruppe hat daher auch äußerst akkurat die Kristall­struktur vor, während und nach den Druck­experimenten untersucht. Dies ergab jedoch keine Hinweise auf Kristall­defekt­bildung. „Die Koexistenz flüssiger und gefrorener Spinbereiche scheint deshalb eine allgemeine Eigen­schaft von β-Li2IrO3 unter hohem Druck zu sein“, fasst Gegenwart die Experi­mente zusammen. Unver­standen sei bislang, ob die ausge­frorenen Spins sich in Klumpen analog zu Eisbergen im Ozean formieren, oder ob sie flüssige Bereiche umringen, analog zur dünnen Eisfläche eines gefrierenden Sees. „In jedem Fall ist die unter Druck beobachtete Phase unter­schiedlich zur vorher­gesagten Kitaev-Spin­flüssigkeit. Daher muss die bestehende Theorie erweitert werden“, so Tsirlin.

U. Augsburg / JOL

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