Halbgefrorene Spinflüssigkeit
Erstmals wurde die Koexistenz von flüssigen und gefrorenen Spinbereichen nachgewiesen.
In magnetischen Materialien können Spins unterschiedliche Zustände annehmen, die in Analogie zu Aggregatzuständen oft als fest oder gasförmig und ungeordnet bezeichnet werden. Zwischenzustände von Spins, die den Zwischenzuständen einer Flüssigkeit entsprechen würden, wären von besonderem Interesse, sind bislang jedoch kaum nachgewiesen. Forscher des Augsburger Lehrstuhls für Experimentalphysik VI/EKM berichten nun vom erstmaligen experimentellen Nachweis eines gemischt flüssigen und gefrorenen Spinzustands, den sie unter hohem Druck in der Verbindung β-Li2IrO3 realisieren konnten.
Abb.: Analog zur Koexistenz von Eis und Wasser in der Arktis treten in β-Li2IrO3 unter hohem Druck Bereiche gefrorener und flüssiger Spins, also bewegliche und feste magnetische Momente, auf. (Bild: K. Hansen, NASA / Alaska Dispatch)
Bei hohen Temperaturen ändern die Spins ständig ihre Ausrichtung und befinden sich in einem völlig ungeordneten Zustand. Analog zum Kondensieren und anschließenden Erstarren bei Abkühlung von Gasen, können auch Spins bei tiefen Temperaturen in einen geordneten Zustand mit fester Ausrichtung einfrieren. Falls jedoch unterschiedliche Wechselwirkungen zwischen den Spins nicht gleichzeitig in einer festen Spinausrichtung befriedigt werden können, ist theoretisch vorhergesagt, dass sich bei dieser magnetischen Frustration eine bis hinab zu tiefsten Temperaturen stabile Spinflüssigkeit ausbildet. Dies ist ein Zustand, in dem die Spins zwar miteinander wechselwirken, aber keine feste Ordnung annehmen.
Theoretisch wurden verschiedene Wege vorgeschlagen, um Spinflüssigkeiten zu erzeugen. Bislang gibt es jedoch kaum praktische Umsetzungen. Im Jahr 2006 wurde vom mathematischen Physiker Alexei Kitaev ein vielbeachtetes Modell erdacht, welches eine neue Klasse von Spinflüssigkeiten mit interessanten Eigenschaften auch im Hinblick auf neuartige Anwendungen in der Quanteninformationstechnologie bietet. Zahlreiche Arbeitsgruppen versuchen seither eine „Kitaev-Spinflüssigkeit“ zu realisieren. Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe von Verbindungen, welche die von Kitaev postulierte bindungsrichtungsabhängige magnetische Wechselwirkung aufweisen, der Kitaev-Spinflüssigkeitszustand konnte jedoch nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Dies liegt daran, dass in der Realität zusätzliche, im Modell nicht enthaltene Wechselwirkungen einen festen Spinzustand favorisieren.
Das Augsburger Team hat nun durch Anlegen von Druck ein wichtiges Ergebnis erzielt. „Druck kann die Atompositionen im Kristall und damit deren gegenseitige Wechselwirkungen gezielt ändern. Magnetische Wechselwirkungen sind besonders druckempfindlich, daher sind Druckexperimente an Kitaev-Materialien besonders spannend“, sagt Alexander Tsirlin, Nachwuchsgruppenleiter am Zentrum für Elektronische Korrelationen und Magnetismus des Augsburger Physik-Instituts. Für die Druckexperimente wurde die Verbindung β-Li2IrO3 ausgewählt, die in Augsburg in Form hochreiner Einkristalle hergestellt werden kann. Frühere Untersuchungen zeigten bereits das Vorhandensein der Kitaev-Wechselwirkung in diesem Material. Allerdings tritt bei Normaldruck keine Spinflüssigkeit, sondern eine komplizierte magnetische Ordnung auf. Das Team unter Leitung von Tsirlin und Philipp Gegenwart führte nun Druckexperimente bis zum 20.000-fachen des Atmosphärendrucks durch.
Eine sehr kompakte Druckzelle mit weniger als acht Millimeter Außendurchmesser wurde für hochempfindliche Messungen der Magnetisierung bis zu sehr tiefen Temperaturen verwandt. Weitere Experimente wurden am Paul Scherrer Institut in der Schweiz durchgeführt. Bei diesen Experimenten wurde das Probenmaterial innerhalb einer Druckzelle mit Myonen, die ein Spinmoment trugen, bombardiert. Die Polarisation des Myonenspins ist eine sehr empfindliche Sonde lokaler Magnetfelder im Probenmaterial. Die Experimente mit Myonen am Paul Scherrer Institut bestätigten die bereits in Augsburg beobachtete Unterdrückung der magnetischen Ordnung in β-Li2IrO3 unter hohem Druck, die auf die Bildung einer Spinflüssigkeit hindeuten könnte. Die detaillierte Auswertung ergab jedoch zur Überraschung des Forscherteams, dass eine Koexistenz, vermutlich auf Nanometer-Skala, von flüssigen und gefrorenen Bereichen vorliegt.
Das Ausfrieren einer Spinflüssigkeit kann durch Unvollkommenheiten im Material, also durch Gitterdefekte verursacht werden. Die Arbeitsgruppe hat daher auch äußerst akkurat die Kristallstruktur vor, während und nach den Druckexperimenten untersucht. Dies ergab jedoch keine Hinweise auf Kristalldefektbildung. „Die Koexistenz flüssiger und gefrorener Spinbereiche scheint deshalb eine allgemeine Eigenschaft von β-Li2IrO3 unter hohem Druck zu sein“, fasst Gegenwart die Experimente zusammen. Unverstanden sei bislang, ob die ausgefrorenen Spins sich in Klumpen analog zu Eisbergen im Ozean formieren, oder ob sie flüssige Bereiche umringen, analog zur dünnen Eisfläche eines gefrierenden Sees. „In jedem Fall ist die unter Druck beobachtete Phase unterschiedlich zur vorhergesagten Kitaev-Spinflüssigkeit. Daher muss die bestehende Theorie erweitert werden“, so Tsirlin.
U. Augsburg / JOL