Heiße Supraleiter und exotische Materialien
Jahresrückblick Molekül- und Festkörperphysik 2020.
Mit neuen Methoden in der Molekülphysik lassen sich schnelle Prozesse immer besser untersuchen. Einen besonderen Kniff haben sich Wissenschaftler ausgedacht, indem sie die Molekülrotation als Stoppuhr verwendeten. Mit kurzen, intensiven Laserblitzen im Femtosekundenbereich gelang es ihnen, ein Wasserstoffmolekül zur Dissoziation anzuregen. Dabei konkurrieren zwei Prozesse miteinander. Diese lassen sich dadurch auseinander halten, indem man die Rotationsdauer des Moleküls mit einem Reaktionsmikroskop ermittelt und zur Analyse heranzieht. Diese Technik lässt sich auch auf mehrschrittige Reaktionen anwenden und könnte Aufschluss über unterschiedliche Arten molekularer Dynamik geben. Einzelne Moleküle lassen sich auch mit einer anderen, spektroskopischen Methode analysieren. Bei dieser indirekten Methode wird weder das Molekül zerstört, noch sein Quantenzustand geändert. In einem optischen Gitter wird das Molekül zusammen mit einem Fremdatom gefangen, dessen Schwingungsverhalten Aufschluss über das Molekül gibt. Diese Art molekularer Kraftspektroskopie kann um Größenordnungen empfindlicher sein als gängige Spektroskopiemethoden, die eine große Zahl von Molekülen benötigen.
Die Eigenschaften von Molekülen können stark davon abhängen, ob und wie sie mit quantisierten elektromagnetischen Feldern in optischen Hohlräumen wechselwirken. Eine Modulation der Resonatorfeldfrequenz kann etwa den Elektronentransfer in einem solchen System steuern. Die Effekte der Hohlraum-Quantenoptik sind noch nicht abschließend verstanden, allerdings gibt es neue theoretische Ansätze, die Korrelationen beschreiben, die mit klassischer Quantenelektrodynamik schwer darzustellen sind. Mit Hilfe einer Hohlraum-Optik gelang es einer anderen Forschergruppe, ein schwebendes Nanoteilchen bis in den quantenmechanischen Grundzustand herunter zu kühlen. Dank kohärenter Streuung ließ sich die Glaskugel aus wenigen hundert Millionen Atomen so weit zur Ruhe bringen, bis schließlich die Bewegung des Massenmittelpunkts von Quantengesetzen dirigiert wurde – und das, obwohl das Kügelchen selbst mit rund 300 Grad Celsius glühend heiß war.
Es ist ein alter Traum der Molekül- und Festkörperphysik, ähnlich wie mit Lego-Steinchen Strukturen aus atomar kleinen Teilchen zu bauen. In der Realität ist das leider etwas schwieriger. Dank eines neuen Verfahrens, das sich einer besonderen Variante maschinellen Lernens bedient, kommt man nun diesem Traum etwas näher. Mit der Spitze eines Rasterkraftmikroskops konnte ein Forscherteam Moleküle gezielt platzieren. Die verwendete künstliche Intelligenz entwickelte dabei selbständig Lösungsstrategien – so wie seit einigen Jahren die Go-Software AlphaGo Zero. Eine andere Gruppe hat ein besonders schnelles Verfahren entwickelt, mit dem sich Bewegungen eines einzelnen Moleküls in weniger als einer Pikosekunde anregen lassen. Hier kam ein ultraschnelles Rastertunnelmikroskop zum Einsatz, auf das die Forscher Femtosekunden-Laserpulse einstrahlten und somit einzelne Atome des Moleküls anstoßen konnten. Das erlaubt eine direkte Kontrolle über molekulare Reaktionen.
Exotische Materiezustände
In der Festkörperphysik gab es gleich mehrere Nachweise besonderer Materiezustände, die schon vor langer Zeit theoretisch vorhergesagt wurden. So lieferten Neutronenstreuexperimente erstmals die Bestätigung von Bethe-Strings, wie sie Hans Bethe schon 1931 beschrieben hatte. In einem passend angeregten System liegen zwei oder mehr aufeinanderfolgende magnetische Momente vor, die in einem eindimensionalen Antiferromagneten in die selbe Richtung zeigen. Der Nachweis erforderte ein hohes äußeres Magnetfeld von über 25 Tesla und belegt, wie weitsichtig Bethes quantentheoretische Vorhersagen waren. Ebenfalls zum ersten Mal gelang der Nachweis fraktionaler Anyonen. Bei einem Metall-Isolator-Übergang kann es Phasen geben, bei denen aus kollektiven Eigenschaften der Teilchen ein fraktionales Verhalten resultiert. Auch hier waren hohe Magnetfelder von bis zu dreißig Tesla notwendig. Solche Materialien mit stark wechselwirkenden Elektronen könnten in Zukunft auch für das Quantencomputing interessant werden.
Ein Forscherteam hat neuartige plasmonische Schwingungen in einem atomar dünnen Material entdeckt. Diese Plasmonen waren ungewöhnlich stabil und bei typischen Bedingungen sehr langsam. Dies deutet darauf hin, dass sich diese Plasmonen räumlich stark lokalisieren lassen, was für Anwendungen von der Katalyse chemischer Reaktionen bis hin zur Biosensorik und Einzelmolekülspektroskopie relevant werden könnte. Eine weitere Gruppe konnte die Bandstrukturen von Quantenmaterialien mittels einer neuen Analysemethode aufdecken. Ultrakurze Lichtblitze regten die Ausbildung lokalisierter Elektronenkämme an. Die Lokalisierung der Elektronen in den Zinken des Kamms erlaubte dann eine Bestimmung der elektronischen Struktur mit hoher Präzision. Das macht es möglich, künftig in maßgeschneiderten Materialien nach neuartigen Quanteneffekten zu suchen.
Antiferromagnetische Materialien könnten eine wichtige Rolle in der künftigen Informationstechnologie spielen, da sie schnellere und dichtere Komponenten ermöglichen. Die Kontrolle ihrer magnetischen Eigenschaften ist allerdings nicht immer einfach. Mit Hilfe von Terahertzpulsen konnten Forscher die Kristallstruktur eines Antiferromagneten beeinflussen. Damit konnten die Wissenschaftler ohne mechanische Belastung piezomagnetische Effekte ausnutzen und die Magnetisierung um Größenordnungen verstärken. Ein anderer, ebenfalls überraschend eindeutiger Effekt ließ sich an Halbmetallen nachweisen. So zeigte sich, dass Halbmetalle die Eigenschaften von Metallen oder sogar von Supraleitern annehmen können. Dies hing davon ab, in welcher Weise sie chemisch angeschnitten wurden. Ein Bleisulfid-Nanodraht in Zickzack-Form verhielt sich etwa wie ein Metall, während sich ein gerader Streifen aus dem selben Material wie ein Halbleiter benahm. Diese ungewöhnlichen Eigenschaften könnten ebenfalls in neuartigen Materialien resultieren.
Die Spintronik verspricht schnellere und energieeffizientere Geräte, benötigt allerdings noch eine bessere Kontrolle und Detektion von Elektronenspins. Dank einer geschickten Kombination von Quantenpunkten auf einem Nanodraht konnten Forscher ein Spin-Ventil erzeugen, das eine effiziente Spinpolarisation nahe am theoretischen Maximum hervorruft. Dies könnte auch direkte Spin-Korrelations- und Spin-Verschränkungsmessungen ermöglichen. Und mit einem neuartigen MRT-Scanner lassen sich nun auch Spin-Wellen in ultradünnen Magneten abbilden. Dies gelang bis in den Submikrometerbereich. Der Scanner nutzt dazu Stickstoff-Fehlstellen-Zentren in Diamant, die extrem empfindlich auf Magnetfelder reagieren. Diese bildgebende Technik könnte sich als hilfreiches Instrument erweisen, um spinbasierte Logikbausteine zu entwickeln.
Magnetische Monopole im Spin-Eis
Die Händigkeit von Nanoteilchen ist für viele Anwendungen entscheidend, vor allem bei Biomolekülen. Ein neuartiges Mikroskop-Spektrometer erlaubt es nun, die Chiralität eines einzelnen Nanoteilchens in Echtzeit zu beobachten. Damit sind Untersuchungen von Proben mit extrem niedrigen Volumina möglich. Bei einer anderen Materialklasse kommt es ebenfalls auf die Richtung an: Magnetische Monopole treten zwar nicht als einzelne Teilchen auf, als Quasiteilchen in bestimmten Materialsystemen kommen sie aber in bestimmten Kristallen zum Vorschein. Hierzu müssen benachbarte Spins in einem Kristall passende Richtungen aufweisen. In einem Kristall mit Kagome-Struktur entdeckten Forscher anhand von Neutronenstreuung ein solches Kagome-Spin-Eis mit magnetischen Monopolen.
Auch Skyrmionen und Antiskyrmionen beruhen auf geometrischen Eigenschaften in Festkörpern. Sie gelten als vielversprechende Kandidaten für moderne Speichertechnologien in Festplatten oder Speicherchips. Wie ein Forscherteam herausfinden konnte, lassen sich unter bestimmten Bedingungen Skyrmionen und Antiskyrmionen sogar in demselben Material erzeugen. Bislang ging man davon aus, dass die beiden verschiedenen Wirbeltypen unterschiedliche Materialklassen benötigen. Skyrmionen lassen sich auch in verschiedenen Phasen anordnen. Einer anderen Forschergruppe gelang es, viele kleine magnetische Wirbel so zu präparieren, dass sie von selbst den Übergang zu einer geordneten hexatischen Phase vollzogen – ein Prozess ähnlich wie eine Kristallisation, allerdings in nur zwei Dimensionen.
Majorana-Moden und fermionische Photonen
In den letzten Jahren sind topologische Materialien immer stärker in den Fokus gerückt, da sie aufgrund ihrer geschützten Zustände besonders robuste oder auch exotische elektronische Eigenschaften aufweisen, die sie für Aufgaben in der Quanteninformationsverarbeitung prädestinieren. Ein Wissenschaftlerteam hat Wolframditellurid untersucht, dessen topologisch geschützter Zustand sich innerhalb von Pikosekunden aufbrechen und somit manipulieren lässt. Die Zustandsänderungen in diesem Weyl-Halbmetall ließen sich in Echtzeit messen. Ebenfalls Wolframditellurid untersuchte eine andere Gruppe. Topologische Isolatoren sind in ihrem Innern nichtleitend und nur an der Oberfläche leitend. Wie sich herausstellte, leitete das Material Strom jedoch nicht einfach auf seiner Oberfläche. Denn Wolframditellurid ist kein gewöhnlicher topologischer Isolator, sondern ein topologischer Isolator zweiter Klasse, der lediglich entlang seiner Kanten in sehr schmalen Kanälen Strom leitet. Und ähnlich wie magnetische Monopole gehören auch Majorana-Moden zu den quantentheoretischen Konzepten, die in der Teilchenphysik bislang vergeblich gesucht werden, sich in der Festkörperphysik aber realisieren lassen. In einem hybriden Nanodraht aus Indiumarsenid mit einer Hülle aus Aluminium waren Forscher auf der Suche nach Majorana-Nullmoden. Diese besonders geschützten Moden gelten dank ihrer geringen Neigung zu Dekohärenz als spannendes Modellsystem für Quantencomputer. Die Ergebnisse deuten auf die Existenz von Majorana-Moden hin, wie auch theoretisch erwartet war, denn solche Nanodrähte verhalten sich an ihren Enden wie eindimensionale topologische Supraleiter.
Auch in Metamaterialien lassen sich topologische Zustände einsetzen. Auf diese Weise ließ sich erstmals der nichthermitesche Skineffekt experimentell bestätigen. Bei diesem Effekt lokalisieren sich alle Zustände im Material an dessen Rand. Dies konnten Forscher anhand von elektrischen Schaltkreisen mit periodisch angeordneten Schaltelementen nachweisen. Der Effekt könnte insbesondere bei hochsensiblen optischen Detektoren zum Einsatz kommen. Man kann aber auch photonische topologische Isolatoren als Lichtwellenleiter realisieren. In diesen können sich Photonen wie Elektronen verhalten. Die Lichtteilchen weisen dann fermionische Eigenschaften auf. Hierzu mussten die Forscher geschickt ineinander verwobene Gitter aus kompliziert gebogenen Wellenleitern konstruieren, die den Photonen einen halbzahligen Spin aufprägten. Ein allgemeines Messverfahren zur Identifikation topologischer Zustände hat eine andere Gruppe entwickelt. Mit diesem Protokoll lassen sich topologische Zustände im Experiment vergleichsweise einfach über topologische Invarianten ermitteln.
Heiße Supraleiter unter Hochdruck
Aber nicht nur bei den topologischen, sondern auch bei den herkömmlichen Supraleitern gab es einige spannende Entwicklungen. So erzielte ein kohlenstoffhaltiges Schwefelhydrid neue Rekordwerte und zeigte Supraleitung bei kühler Raumtemperatur von rund 15 Grad Celsius. Einer breiteren Anwendbarkeit steht allerdings noch im Weg, dass das Material dafür unter extrem hohem Druck von 267 Gigapascal stehen muss, was etwa dem 2,5-millionenfachen Atmosphärendruck entspricht. Das ist nur in kleinen Proben in Diamantstempelzellen möglich. Doch weisen diese Ergebnisse den Weg, mit Hilfe wasserstoffreicher Verbindungen auch andere Hochtemperatur-Supraleiter zu finden. Ein eisenbasierter Supraleiter hingegen zeigte eine Verletzung der Zeitsymmetrie. Diese Art von Supraleitern ist vergleichsweise einfach herzustellen und deshalb für Anwendungen sehr relevant. Dass selbst diese Supraleiter symmetriebrechendes Verhalten aufweisen, gibt nun Anlass, den Mechanismus der Supraleitung nochmals überdenken.
Aber auch andere Untersuchungen werfen Fragen zu vermeintlich wohlverstandenen Punkten auf. Bei der Analyse von Cooper-Elektronenpaaren an Josephson-Kontakten konnten Forscher eine lange für gültig gehaltene Theorie nicht bestätigen. Auch unter einem extremen Einfluss der störenden Umgebung blieb der Josephson-Kontakt stromleitend, obwohl ein Phasenübergang hin zu nichtleitendem Verhalten hätte stattfinden sollen. Und wie rasant sich magnetische Flussquanten in einem Supraleiter bewegen können, zeigte sich in einem Typ-II-Supraleiter. Bei diesen dringt ein äußeres Magnetfeld in Form von quantisierten Magnetflusslinien in das Material ein, auch Abrikosov-Vortizes genannt. Diese Flussquanten konnten sich mit bis zu 15 Kilometern pro Sekunde durch das Material bewegen. Dieses Ergebnis deutet zudem darauf hin, dass diese Art von Supraleiter ein vielversprechender Kandidat für schnelle Einzelphotonendetektoren ist.
Dirk Eidemüller
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