04.01.2021

Heiße Supraleiter und exotische Materialien

Jahresrückblick Molekül- und Festkörperphysik 2020.

Mit neuen Methoden in der Molekül­physik lassen sich schnelle Prozesse immer besser untersuchen. Einen besonderen Kniff haben sich Wissenschaftler ausgedacht, indem sie die Molekülrotation als Stoppuhr verwendeten. Mit kurzen, intensiven Laserblitzen im Femtosekunden­bereich gelang es ihnen, ein Wasserstoff­molekül zur Dissozia­tion anzuregen. Dabei konkurrieren zwei Prozesse miteinander. Diese lassen sich dadurch auseinander halten, indem man die Rotationsdauer des Moleküls mit einem Reaktions­mikroskop ermittelt und zur Analyse heranzieht. Diese Technik lässt sich auch auf mehr­schrittige Reaktionen anwenden und könnte Aufschluss über unter­schiedliche Arten molekularer Dynamik geben. Einzelne Moleküle lassen sich auch mit einer anderen, spektro­skopischen Methode analysieren. Bei dieser indirekten Methode wird weder das Molekül zerstört, noch sein Quantenzustand geändert. In einem optischen Gitter wird das Molekül zusammen mit einem Fremdatom gefangen, dessen Schwingungs­verhalten Aufschluss über das Molekül gibt. Diese Art molekularer Kraftspektroskopie kann um Größen­ordnungen empfindlicher sein als gängige Spektroskopie­methoden, die eine große Zahl von Molekülen benötigen.

Die Eigenschaften von Molekülen können stark davon abhängen, ob und wie sie mit quantisierten elektro­magnetischen Feldern in optischen Hohlräumen wechselwirken. Eine Modulation der Resonator­feldfrequenz kann etwa den Elektronen­transfer in einem solchen System steuern. Die Effekte der Hohlraum-Quantenoptik sind noch nicht abschließend verstanden, allerdings gibt es neue theoretische Ansätze, die Korre­lationen beschreiben, die mit klassischer Quantenelektrodynamik schwer darzustellen sind. Mit Hilfe einer Hohlraum-Optik gelang es einer anderen Forschergruppe, ein schwebendes Nanoteilchen bis in den quanten­mechanischen Grundzustand herunter zu kühlen. Dank kohärenter Streuung ließ sich die Glaskugel aus wenigen hundert Millionen Atomen so weit zur Ruhe bringen, bis schließlich die Bewegung des Massenmittel­punkts von Quantengesetzen dirigiert wurde – und das, obwohl das Kügelchen selbst mit rund 300 Grad Celsius glühend heiß war.

Es ist ein alter Traum der Molekül- und Festkörper­physik, ähnlich wie mit Lego-Steinchen Strukturen aus atomar kleinen Teilchen zu bauen. In der Realität ist das leider etwas schwieriger. Dank eines neuen Verfahrens, das sich einer besonderen Variante maschinellen Lernens bedient, kommt man nun diesem Traum etwas näher. Mit der Spitze eines Rasterkraft­mikroskops konnte ein Forscherteam Moleküle gezielt platzieren. Die verwendete künstliche Intelligenz entwickelte dabei selbständig Lösungs­strategien – so wie seit einigen Jahren die Go-Software AlphaGo Zero. Eine andere Gruppe hat ein besonders schnelles Verfahren entwickelt, mit dem sich Bewegungen eines einzelnen Moleküls in weniger als einer Pikosekunde anregen lassen. Hier kam ein ultra­schnelles Rastertunnel­mikroskop zum Einsatz, auf das die Forscher Femto­sekunden-Laserpulse einstrahlten und somit einzelne Atome des Moleküls anstoßen konnten. Das erlaubt eine direkte Kontrolle über molekulare Reaktionen.

Exotische Materiezustände

In der Festkörperphysik gab es gleich mehrere Nachweise besonderer Materie­zustände, die schon vor langer Zeit theoretisch vorhergesagt wurden. So lieferten Neutronenstreu­experimente erstmals die Bestätigung von Bethe-Strings, wie sie Hans Bethe schon 1931 beschrieben hatte. In einem passend angeregten System liegen zwei oder mehr aufeinander­folgende magnetische Momente vor, die in einem ein­dimensionalen Anti­ferromagneten in die selbe Richtung zeigen. Der Nachweis erforderte ein hohes äußeres Magnetfeld von über 25 Tesla und belegt, wie weitsichtig Bethes quanten­theoretische Vorhersagen waren. Ebenfalls zum ersten Mal gelang der Nachweis fraktionaler Anyonen. Bei einem Metall-Isolator-Übergang kann es Phasen geben, bei denen aus kollektiven Eigenschaften der Teilchen ein fraktionales Verhalten resultiert. Auch hier waren hohe Magnetfelder von bis zu dreißig Tesla notwendig. Solche Materialien mit stark wechsel­wirkenden Elektronen könnten in Zukunft auch für das Quanten­computing interessant werden.

Ein Forscherteam hat neuartige plas­monische Schwingungen in einem atomar dünnen Material entdeckt. Diese Plasmonen waren ungewöhnlich stabil und bei typischen Bedingungen sehr langsam. Dies deutet darauf hin, dass sich diese Plasmonen räumlich stark lokalisieren lassen, was für Anwendungen von der Katalyse chemischer Reaktionen bis hin zur Biosensorik und Einzelmolekülspektroskopie relevant werden könnte. Eine weitere Gruppe konnte die Band­strukturen von Quanten­materialien mittels einer neuen Analyse­methode aufdecken. Ultrakurze Lichtblitze regten die Ausbildung lokalisierter Elektronen­kämme an. Die Lokalisierung der Elektronen in den Zinken des Kamms erlaubte dann eine Bestimmung der elektronischen Struktur mit hoher Präzision. Das macht es möglich, künftig in maßge­schneiderten Materialien nach neuartigen Quanten­effekten zu suchen.

Antiferro­magnetische Materialien könnten eine wichtige Rolle in der künftigen Informations­technologie spielen, da sie schnellere und dichtere Komponenten ermöglichen. Die Kontrolle ihrer magnetischen Eigenschaften ist allerdings nicht immer einfach. Mit Hilfe von Terahertz­pulsen konnten Forscher die Kristallstruktur eines Anti­ferromagneten beeinflussen. Damit konnten die Wissen­schaftler ohne mechanische Belastung piezomagnetische Effekte ausnutzen und die Magnetisierung um Größenordnungen verstärken. Ein anderer, ebenfalls überraschend eindeutiger Effekt ließ sich an Halbmetallen nachweisen. So zeigte sich, dass Halbmetalle die Eigenschaften von Metallen oder sogar von Supraleitern annehmen können. Dies hing davon ab, in welcher Weise sie chemisch ange­schnitten wurden. Ein Blei­sulfid-Nanodraht in Zickzack-Form verhielt sich etwa wie ein Metall, während sich ein gerader Streifen aus dem selben Material wie ein Halbleiter benahm. Diese unge­wöhnlichen Eigenschaften könnten ebenfalls in neuartigen Materialien resultieren.

Die Spintronik verspricht schnellere und energie­effizientere Geräte, benötigt allerdings noch eine bessere Kontrolle und Detektion von Elektronenspins. Dank einer geschickten Kombination von Quantenpunkten auf einem Nanodraht konnten Forscher ein Spin-Ventil erzeugen, das eine effiziente Spinpolarisation nahe am theoretischen Maximum hervorruft. Dies könnte auch direkte Spin-Korrelations- und Spin-Verschränkungs­messungen ermöglichen. Und mit einem neuartigen MRT-Scanner lassen sich nun auch Spin-Wellen in ultra­dünnen Magneten abbilden. Dies gelang bis in den Submikrometer­bereich. Der Scanner nutzt dazu Stickstoff-Fehlstellen-Zentren in Diamant, die extrem empfindlich auf Magnet­felder reagieren. Diese bildgebende Technik könnte sich als hilfreiches Instrument erweisen, um spinbasierte Logik­bausteine zu entwickeln.

Magnetische Monopole im Spin-Eis

Die Händigkeit von Nano­teilchen ist für viele Anwendungen entscheidend, vor allem bei Bio­molekülen. Ein neuartiges Mikroskop-Spektrometer erlaubt es nun, die Chiralität eines einzelnen Nanoteilchens in Echtzeit zu beobachten. Damit sind Untersuchungen von Proben mit extrem niedrigen Volumina möglich. Bei einer anderen Material­klasse kommt es ebenfalls auf die Richtung an: Magnetische Monopole treten zwar nicht als einzelne Teilchen auf, als Quasiteilchen in bestimmten Material­systemen kommen sie aber in bestimmten Kristallen zum Vorschein. Hierzu müssen benachbarte Spins in einem Kristall passende Richtungen aufweisen. In einem Kristall mit Kagome-Struktur entdeckten Forscher anhand von Neutronenstreuung ein solches Kagome-Spin-Eis mit magnetischen Monopolen.

Auch Skyrmionen und Anti­skyrmionen beruhen auf geometrischen Eigen­schaften in Festkörpern. Sie gelten als vielver­sprechende Kandidaten für moderne Speicher­technologien in Festplatten oder Speicherchips. Wie ein Forscherteam herausfinden konnte, lassen sich unter bestimmten Bedingungen Skyrmionen und Anti­skyrmionen sogar in demselben Material erzeugen. Bislang ging man davon aus, dass die beiden verschiedenen Wirbel­typen unterschiedliche Material­klassen benötigen. Skyrmionen lassen sich auch in verschiedenen Phasen anordnen. Einer anderen Forschergruppe gelang es, viele kleine magnetische Wirbel so zu präparieren, dass sie von selbst den Übergang zu einer geordneten hexatischen Phase vollzogen – ein Prozess ähnlich wie eine Kristallisation, allerdings in nur zwei Dimensionen. 

Majorana-Moden und fermionische Photonen

In den letzten Jahren sind topo­logische Materialien immer stärker in den Fokus gerückt, da sie aufgrund ihrer geschützten Zustände besonders robuste oder auch exotische elek­tronische Eigen­schaften aufweisen, die sie für Aufgaben in der Quanten­informations­verarbeitung prädestinieren. Ein Wissenschaftler­team hat Wolfram­ditellurid untersucht, dessen topologisch geschützter Zustand sich innerhalb von Pikosekunden aufbrechen und somit manipulieren lässt. Die Zustandsänderungen in diesem Weyl-Halbmetall ließen sich in Echtzeit messen. Ebenfalls Wolfram­ditellurid untersuchte eine andere Gruppe. Topologische Isolatoren sind in ihrem Innern nichtleitend und nur an der Oberfläche leitend. Wie sich heraus­stellte, leitete das Material Strom jedoch nicht einfach auf seiner Oberfläche. Denn Wolfram­ditellurid ist kein gewöhnlicher topologischer Isolator, sondern ein topo­logischer Isolator zweiter Klasse, der lediglich entlang seiner Kanten in sehr schmalen Kanälen Strom leitet. Und ähnlich wie magnetische Monopole gehören auch Majorana-Moden zu den quanten­theoretischen Konzepten, die in der Teilchen­physik bislang vergeblich gesucht werden, sich in der Festkörperphysik aber realisieren lassen. In einem hybriden Nanodraht aus Indiumarsenid mit einer Hülle aus Aluminium waren Forscher auf der Suche nach Majorana-Nullmoden. Diese besonders geschützten Moden gelten dank ihrer geringen Neigung zu Dekohärenz als spannendes Modellsystem für Quanten­computer. Die Ergebnisse deuten auf die Existenz von Majorana-Moden hin, wie auch theoretisch erwartet war, denn solche Nanodrähte verhalten sich an ihren Enden wie eindi­mensionale topo­logische Supra­leiter. 

Auch in Meta­materialien lassen sich topo­logische Zustände einsetzen. Auf diese Weise ließ sich erstmals der nicht­hermitesche Skineffekt experimentell bestätigen. Bei diesem Effekt lokalisieren sich alle Zustände im Material an dessen Rand. Dies konnten Forscher anhand von elektrischen Schalt­kreisen mit periodisch angeordneten Schaltelementen nachweisen. Der Effekt könnte insbesondere bei hoch­sensiblen optischen Detektoren zum Einsatz kommen. Man kann aber auch photonische topologische Isolatoren als Lichtwellen­leiter realisieren. In diesen können sich Photonen wie Elektronen verhalten. Die Lichtteilchen weisen dann fermionische Eigen­schaften auf. Hierzu mussten die Forscher geschickt ineinander verwobene Gitter aus kompliziert gebogenen Wellen­leitern konstruieren, die den Photonen einen halbzahligen Spin aufprägten. Ein allgemeines Mess­verfahren zur Identi­fikation topo­logischer Zustände hat eine andere Gruppe entwickelt. Mit diesem Protokoll lassen sich topologische Zustände im Experiment vergleichs­weise einfach über topo­logische Invarianten ermitteln.

Heiße Supraleiter unter Hochdruck

Aber nicht nur bei den topo­logischen, sondern auch bei den herkömm­lichen Supraleitern gab es einige spannende Entwicklungen. So erzielte ein kohlenstoff­haltiges Schwefel­hydrid neue Rekordwerte und zeigte Supraleitung bei kühler Raumtemperatur von rund 15 Grad Celsius. Einer breiteren Anwend­barkeit steht allerdings noch im Weg, dass das Material dafür unter extrem hohem Druck von 267 Gigapascal stehen muss, was etwa dem 2,5-millionen­fachen Atmosphären­druck entspricht. Das ist nur in kleinen Proben in Diamant­stempelzellen möglich. Doch weisen diese Ergebnisse den Weg, mit Hilfe wasserstoff­reicher Verbindungen auch andere Hochtemperatur-Supraleiter zu finden. Ein eisen­basierter Supraleiter hingegen zeigte eine Verletzung der Zeitsymmetrie. Diese Art von Supra­leitern ist vergleichsweise einfach herzustellen und deshalb für Anwendungen sehr relevant. Dass selbst diese Supraleiter symmetrie­brechendes Verhalten aufweisen, gibt nun Anlass, den Mechanismus der Supraleitung nochmals überdenken.

Aber auch andere Untersuchungen werfen Fragen zu vermeintlich wohl­verstandenen Punkten auf. Bei der Analyse von Cooper-Elektronen­paaren an Josephson-Kontakten konnten Forscher eine lange für gültig gehaltene Theorie nicht bestätigen. Auch unter einem extremen Einfluss der störenden Umgebung blieb der Josephson-Kontakt stromleitend, obwohl ein Phasenübergang hin zu nicht­leitendem Verhalten hätte stattfinden sollen. Und wie rasant sich magnetische Flussquanten in einem Supraleiter bewegen können, zeigte sich in einem Typ-II-Supra­leiter. Bei diesen dringt ein äußeres Magnetfeld in Form von quanti­sierten Magnet­flusslinien in das Material ein, auch Abrikosov-Vortizes genannt. Diese Flussquanten konnten sich mit bis zu 15 Kilometern pro Sekunde durch das Material bewegen. Dieses Ergebnis deutet zudem darauf hin, dass diese Art von Supraleiter ein vielver­sprechender Kandidat für schnelle Einzel­photonendetektoren ist. 

Dirk Eidemüller

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