Kohärente Spinkontrolle bei Raumtemperatur
Quantenbits in dünner Schicht aus Bornitrid über Wechselfeld manipuliert.
Bornitrid ist ein technologisch interessantes Material, weil es sehr kompatibel mit vielen anderen zweidimensionalen kristallinen Strukturen ist, zum Beispiel mit Graphen. Darum eröffnet es Wege zu Multischichtstrukturen oder elektronischen Bauelementen mit völlig neuen Eigenschaften. Vor etwa einem Jahr gelang es einem Team vom Physikalischen Institut der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg, in einer extrem flachen Kristallschicht aus Bornitrid Spin-Defekte, auch Qubits genannt, zu erzeugen und experimentell nachzuweisen.
Jetzt hat das Team um Vladimir Dyakonov, seinen Doktoranden Andreas Gottscholl und Arbeitsgruppenleiter Andreas Sperlich einen wichtigen nächsten Schritt geschafft: die kohärente Kontrolle über den Spin-Zustand dieses Defekts – und das auch noch bei Raumtemperatur, ohne aufwändige Kühlung. An der Publikation sind auch Gruppen der University of Technology Sydney und der Trent University in Kanada beteiligt. Mit ihnen arbeitet das Würzburger Team seit einigen Jahren erfolgreich zusammen.
„Wir erwarten, dass Materialien mit kontrollierbaren Spin-Defekten in der Sensorik noch präzisere Messungen von elektromagnetischen Feldern ermöglichen“, erklärt Vladimir Dyakonov. Denkbare Einsatzgebiete seien die Bildgebung in der Medizin, die Navigation oder die Informationstechnologie. „Die Suche der Forschungscommunity nach dem besten Material hierfür ist noch nicht abgeschlossen, aber es gibt mehrere potenzielle Kandidaten“, sagt Andreas Sperlich. „Wir glauben, dass wir einen neuen Kandidaten haben, der sich von anderen durch seine flache Geometrie absetzt und dadurch beste Integrationsmöglichkeiten in die Elektronik bietet.“
Alle Experimente mit der flachen Bornitrid-Schicht wurden an der JMU durchgeführt. „Wir konnten die charakteristischen Spin-Kohärenzzeiten messen, ihre Grenzen bestimmen und diese Grenzen sogar trickreich überwinden“, freut sich Gottscholl, der Erstautor der Publikation. Möglichst lange Spin-Kohärenzzeiten sind erforderlich, um das Potenzial von Spin-Defekten für Quantenanwendungen abschätzen zu können, denn für die letzteren sind komplexe Manipulationen der Spins nötig, die eine gewisse Zeit beanspruchen.
Gottscholl erklärt das Prinzip vereinfacht: „Stellen Sie sich einen Handkreisel vor, der sich um seine Drehachse dreht. Der Nachweis, dass so eine Art von Drehung in einer Schicht aus Bornitrid existiert, ist uns vor etwa einem Jahr gelungen. Und nun konnten wir den Kreisel um einen beliebigen Winkel auslenken, ohne ihn dafür berühren zu müssen.“
Die kontaktlose Manipulation des Kreisels gelang durch die Fernwirkung eines gepulsten elektromagnetischen Wechselfelds. Die JMU-Forscher konnten auch bestimmen, wie lange der Kreisel die neue Ausrichtung beibehält. Der Auslenkungswinkel ist hier als vereinfachte bildliche Darstellung dafür zu sehen, dass ein Qubit viele verschiedene Zustände annehmen kann, nicht nur 0 und 1 wie bei einem Bit.
Was das mit Sensorik zu tun hat? Die direkte atomare Umgebung stört den Spin-Kreisel und kann seine Kohärenzzeit stark verkürzen. „Wir konnten zeigen, wie extrem empfindlich die Kohärenz auf den Abstand zu den nächsten Atomen und Atomkernen, auf magnetische Verunreinigungen, auf die Temperatur und auf Magnetfelder reagiert – aus der Messung der Kohärenzzeit lässt sich also die Umgebung des Qubits abfragen“, erklärt Andreas Sperlich.
Das nächste Ziel des JMU-Teams ist es, einen künstlich gestapelten zweidimensionalen Kristall – eine Van-der-Waals-Heterostruktur – aus unterschiedlichen Materialien und auch entsprechende elektronische Bauelemente zu realisieren. Der wesentliche Baustein dafür sind atomar dünne Bornitrid-Schichten, die optisch aktive Defekte mit einem zugänglichen Spin-Zustand enthalten.
„Besonders reizvoll ist unser Vorhaben, die Spin-Defekte und ihre Umgebung in den 2D-Bauelementen über elektrischen Strom zu kontrollieren statt nur optisch mit einem Laser. Das ist völliges Neuland“, sagt Vladimir Dyakonov.
JMU / DE