Komplexen Moleküldynamiken auf der Spur

Neuer Algorithmus treibt den Einsatz von KI in den Materialwissenschaften voran.

Forschern der TU Berlin ist es in Zusammen­arbeit mit Google Research gelungen, einen Algorithmus zu entwickeln, der anhand von quanten­mechanischen Daten den potenziellen Energie­zustand von einzelnen Molekülen mit großer Genauigkeit und Effizienz vorhersagen kann. Damit könnten sich speziell für Material­wissen­schaftler ganz neue Optionen ergeben.

Abb.: Vereinfachte zwei­dimen­sio­nale Dar­stel­lung der...
Abb.: Vereinfachte zwei­dimen­sio­nale Dar­stel­lung der Poten­zial­hyper­fläche der Atome von C2H4O. Die tat­säch­liche Poten­zial­hyper­fläche ist 15-dimen­sio­nal. Bereiche mit niedriger poten­zieller Energie sind blau, solche mit hoher poten­zieller Energie rot dar­ge­stellt. Der schwarze Pfad zeigt die Reaktion von Ethanal (links) zu Ethenol (rechts; Bild: O. Unke, TU Berlin)

„Quantenmechanik befasst sich unter anderem mit den chemischen und physi­ka­lischen Eigen­schaften eines Moleküls auf Basis der räumlichen Anordnung ihrer Atome. Eine chemische Reaktion wiederum beruht auf dem Zusammen­spiel vieler Moleküle und ist ein multi­dimen­sionaler Prozess“, erläutert Klaus-Robert Müller von der TU Berlin. Die einzelnen Schritte einer chemischen Reaktion auf Molekül­ebene oder sogar auf atomarer Ebene vorher­zusagen und zu modellieren ist ein lang gehegter Traum vieler Material­wissen­schaftler.

Eine entscheidende Rolle für die Reaktions­fähigkeit von Molekülen spielt die Potenzial­hyperfläche. Sie beschreibt die Abhängigkeit der Energie der Atome eines Moleküls von der geometrischen Anordnung der Atomkerne. Die Kenntnis der ultra­genauen Potenzial­hyperflächen von Molekülen erlaubt es, die Bewegung einzelner Atome, etwa während einer chemischen Reaktion, zu simulieren, um deren dynamische quanten­mechanische Eigen­schaften besser zu verstehen und dadurch Ablauf und Ergebnis von Reaktionen exakt vorher­zusagen.

„Man kann sich die Potenzial­hyperfläche wie eine Landschaft mit Bergen und Tälern vorstellen. Ähnlich wie bei einer Murmel, die über eine Miniatur­version dieser Landschaft rollt, wird die Bewegung der Atome durch die Berge und Täler auf der Potenzial­hyperfläche bestimmt: Man nennt das auch Molekular­dynamik“, erklärt Oliver Unke von Google Research in Berlin.

Im Gegensatz zu vielen anderen Anwendungs­gebieten des maschinellen Lernens, in denen einer KI häufig nahezu endlose Datenmengen zur Verfügung stehen, sind für die Vorhersage von Potenzial­hyperflächen typischerweise nur wenige quanten­mechanische Referenz­daten vorhanden, die unter Einsatz von enormer Rechen­leistung erzeugt werden müssen.

„So kann die exakte mathematische Modellierung molekular­dynamischer Eigen­schaften zwar einerseits teure und zeit­auf­wändige Labor­experimente einsparen, benötigt aber im Gegenzug unverhältnis­mäßig hohe Rechen­leistungen. Wir hoffen, dass unser neuartiger Deep Learning Algorithmus – ein Transformer Modell, das erstmals auch Spin und Ladung von Atomen berücksichtigt – zu neuen Erkenntnissen im Bereich der Chemie, Biologie und Material­wissen­schaften führen wird – bei deutlich geringerer Rechen­leistung“, so Müller.

Um eine besonders hohe Daten-Effizienz zu erreichen, kombiniert das neue Deep Learning Modell der Forscher die KI mit bekannten physika­lischen Gesetzen. Bestimmte Aspekte der Potenzial­hyperfläche können mit einfachen physika­lischen Formeln sehr genau beschrieben werden. Die neue Methode erlernt daher nur die Anteile der Potenzialhyperfläche, für die keine einfache mathematische Beschreibung verfügbar ist. „Sehr praktisch: Die KI muss nur das lernen, was man noch nicht aus der Physik weiß“, so Müller. Dadurch kann Rechen­leistung eingespart werden.

Eine weitere Besonderheit ist, dass der Algorithmus auch nichtlokale Wechsel­wirkungen beschreiben kann. Nicht­lokalität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine Veränderung an einem Atom an einer bestimmten geometrischen Position des Moleküls Einfluss auf Atome an einer räumlich getrennten geometrischen Molekül­position haben kann. Aufgrund der räumlichen Trennung von Ursache und Wirkung sind diese Eigenschaften von Quanten­systemen besonders schwer für eine KI zu lernen.

Die Forscher lösten dieses Problem mit einem Transformer, einer Methode, welche ursprünglich für die maschinelle Verarbeitung von Sprache und Texten oder auch Bildern entwickelt wurde. „In einem Text ist die Bedeutung eines Wortes oder Satzes häufig stark vom Kontext abhängig. Dabei kann die relevante Kontext-Information in einem völlig anderen Textabschnitt stehen. In diesem Sinne ist auch Sprache auf eine Art und Weise nichtlokal“, erklärt Müller den Zusammenhang.

Mit Hilfe eines solchen Transformers können die Wissen­schaftler auch verschiedene elektronische Zustände eines Moleküls wie Spin und Ladung unter­scheiden. „Das ist zum Beispiel relevant für physika­lische Prozesse in Solarzellen, in denen ein Molekül Licht absorbiert und dadurch in einen anderen elektro­nischen Zustand versetzt wird“, so Unke.

TU Berlin / RK

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