Kontaktlinse für das Ohr
Schwingungen werden ohne Luftschall direkt auf die Gehörknöchelchen übertragen.
Etwa 15 Millionen Deutsche sind schwerhörig, schätzt der Deutsche Schwerhörigenbund. In vielen Fällen können Hörhilfen das Hörvermögen verbessern und den Alltag der betroffenen Menschen erleichtern. Bei gängigen Hörgeräten sitzt der Lautsprecher im Gehörgang des Trägers. Daraus resultierende akustische Verzerrungen können die Klangqualität beeinträchtigen. Das Mikrofon befindet sich hinter dem Ohr und ist dadurch anfällig für Störgeräusche wie etwa Wind. Mit einer innovativen Hörhilfe will das Mannheimer Start-up Vibrosonic diesen Nachteilen entgegenwirken. Dominik Kaltenbacher und Jonathan Schächtele, ehemals Wissenschaftler der Fraunhofer-Projektgruppe PAMB, und& Ernst Dalhoff von der Uni-HNO-Klinik Tübingen haben das Unternehmen im Jahr 2016 ausgegründet.
Die erste zertifizierte Hörlösung – Vibrosonic alpha – besteht aus drei Komponenten: der Hörkontaktlinse, einem Gehörgangsmodul und einem Hinter-dem-Ohr-Modul. Hörkontaktlinse und Gehörgangsmodul verbleiben fest im Gehörgang, das Hinter-dem-Ohr-Modul kann flexibel abgenommen werden. Mit der Hörkontaktlinse sitzt der Lautsprecher nicht im Gehörgang, sondern auf dem Trommelfell. Schwingungen überträgt sie ohne Luftschall direkt auf die Gehörknöchelchen. Die Klangübertragung erfolgt durch direkte mechanische Stimulation des Gehörs. Dadurch kann das natürliche Hören weitgehend nachempfunden werden. Das System ist in der Lage, Klänge im gesamten hörbaren Frequenzbereich von unter achtzig Hertz bis deutlich über zwölf Kilohertz zu verstärken.
Aufgrund der Unterschiede in der Trommelfellform wird die Hörkontaktlinse für jeden Patienten individuell hergestellt. Dazu wird ein piezoelektrischer Mikrolautsprecher in eine Silikonform eingegossen. „Da unsere Hörkontaktlinse direkt auf dem Trommelfell getragen wird – wie eine Kontaktlinse auf dem Auge – können sehr tiefe und besonders hohe Töne sehr gut verstärkt und störende Geräusche durch Rückkopplungen prinzipbedingt weitgehend vermieden werden. Die tiefen Töne sind beispielsweise beim Genuss von Musik entscheidend, weil der Klang dadurch satter wird. Hohe Töne gut hören zu können, ist für das Sprachverstehen wichtig, denn die codierten Obertöne machen den Charakter einer Stimme aus“, sagt Dominik Kaltenbacher.
Bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder extremer Miniaturisierung stoßen herkömmliche Hörgeräte aufgrund von Rückkopplungs- und Verzerrungseffekten an ihre Grenzen – verursacht durch Leistungsgrenzen der seit jeher verwendeten Spulen-Lautsprecher. „In der Hörkontaktlinse verwenden wir den weltweit ersten Hörgerätelautsprecher, der konsequent mit den Methoden der Mikrosystemtechnik entwickelt und realisiert wurde. Einzelne Strukturen des Vibrosonic-Aktors sind tausendmal kleiner als die Dicke eines menschlichen Haars. Trotz kleinster Abmessungen verfügt er über überragende audiologische Eigenschaften“, sagt Kaltenbacher. Erste Studien mit wenigen Probanden haben gezeigt, dass das System das Klangerlebnis von Menschen mit leichter bis mittelgradiger Hörschädigung verbessern kann. Geplant ist aber, alle derzeitigen Hörsystemkomponenten derart zu miniaturisieren, dass sie im Gehörgang verschwinden und unsichtbar sind.
FhG / JOL