Kontroverse um Karlsruher Physikkurs
Die DPG rät in einem Gutachten mit Nachdruck davon ab, den KPK in der Ausbildung zu verwenden.
„Altlasten zu entsorgen“ – mit diesem Anspruch haben in den 1970er-Jahren Didaktiker um den Karlsruher Professor Friedrich Herrmann damit begonnen, den Physikunterricht an Schule und Hochschule auf neue Füße zu stellen. Sie wollten Schülern und Studenten die Umwege und Hindernisse des heute üblichen Unterrichts, der sich an der historischen Entwicklung orientiert, ersparen und setzten stattdessen durchgängig auf verschiedene Analogien, um zum Beispiel Mechanik, Elektrizitätslehre und Wärmelehre einheitlich mithilfe von Strömungsvorgängen zu beschreiben. Als Ergebnis dieser Arbeiten entstand der „Karlsruher Physikkurs“ (KPK), der die „Physik aus einem Guss“ darstellen soll.
Während es die Fachphysiker über viele Jahre versäumten, sich mit dem KPK zu beschäftigen, war sein Konzept innerhalb der Fachdidaktik lange umstritten. Inzwischen unterrichten in Baden-Württemberg aber seit fast zwanzig Jahren Gymnasiallehrer nach dem KPK, der auch verstärkt in die Lehrerausbildung vordringt. Da sich in den letzten Jahren jedoch vermehrt Referendare darüber beklagt haben, in den Seminaren zum KPK gedrängt zu werden, und Lehrer KPK-Einflüsse im Zentralabitur befürchten, hat der DPG-Vorstand im vergangenen Jahr eine Gutachtergruppe mit dem Auftrag eingesetzt, die fachliche Korrektheit des KPK zu überprüfen. In dem Ende Februar veröffentlichten Gutachten kommen die Autoren, allesamt Physikprofessoren oder -lehrer, zu dem Schluss, der KPK sei „als Grundlage eines physikalischen Unterrichts ebenso ungeeignet wie als Leitlinie zur Formulierung physikalischer Lehr- und Bildungspläne“. Daher empfehlen die Gutachter der DPG, „mit allem Nachdruck dafür einzutreten, dass der KPK nicht in der physikalischen Ausbildung verwendet wird.“ Seither führen Befürworter und Gegner des KPK, seien es nun Fachphysiker, Physikdidaktiker oder Lehrer, eine hitzige Debatte, deren Ende noch nicht abzusehen ist.
Im Karlsruher Physikkurs setzt sich der Wagen nicht in Bewegung, weil eine Kraft auf ihn wirkt, sondern weil über das Seil ein Impulsstrom in die Erde fließt. (Quelle: www.physikdidaktik.uni-karlsruhe.de)
Ein zentrales Element des KPK besteht darin, extensive Größen wie Masse, Energie oder Impuls als Basisgrößen zu wählen und sich diese Größen als eine Art Fluidum vorzustellen mit einer entsprechenden Dichte und Stromdichte. Daraus ergibt sich zum Beispiel, dass in der Mechanik der Impulsstrom an die Stelle der Kraft tritt. Ein Wagen, an dem ein Seil befestigt ist, setzt sich dann nicht in Bewegung, weil ein Kind über das Seil eine Kraft ausübt, sondern weil es – je nach Wahl des Koordinatensystems – Impuls aus der Erde in den Wagen pumpt oder umgekehrt. In dem Gutachten legen die Autoren dar, dass es diesen Impulsstrom im Sinne des KPK in der Natur nicht gebe. Damit habe dieser Strom weder einen Platz im Gebäude der Physik noch im Physikunterricht. In zwei weiteren Beispielen beschäftigt sich das Gutachten mit dem KPK-Zugang zur Thermodynamik, der auf den Begriffen Temperatur und Entropie (statt wie üblich Wärme) beruht, und der Einführung – im Rahmen der Elektrodynamik – von magnetischen Ladungen sowie dem Vakuum als „Träger“ der elektromagnetischen Wellen. Diese Konzepte würden vom KPK in der „durchaus löblichen Absicht“ eingeführt, das Verständnis der physikalischen Vorgänge zu erleichtern. „Doch selbst wenn diese Konzepte für die Schüler eingängiger wären, stellt das keinen Gewinn dar, denn die Schüler lernen etwas, was vom wissenschaftlichen Standpunkt fragwürdig und teilweise nachweislich falsch ist“, heißt es im Fazit des Gutachtens. Die Physik müsse im Unterricht dargestellt werden als eine experimentelle Naturwissenschaft, die ihre Begriffe durch Messvorschriften belege und aufgrund präziser Definitionen ihrer Konzepte zu objektivierbaren Aussagen gelange. Diesen Zielen werde der KPK nicht gerecht.
Friedrich Herrmann hat das Gutachten bereits vor der Veröffentlichung erhalten, um ihm Gelegenheit zu einer Entgegnung zu geben – mit dem Ergebnis, dass das Gutachten auf den 28. Februar, die Entgegnung aber bereits auf den 25. Februar datiert ist. Darin beruft er sich zunächst knapp auf Veröffentlichungen von Pionieren wie Max Planck oder James Maxwell, die seiner Überzeugung nach die im Gutachten gemachten Einwände widerlegten, bevor er im Einzelnen auf die Argumente eingeht. Im Hinblick auf die Mechanik im KPK schreibt er dabei beispielsweise: „Ob es den Impulsstrom im Gebäude der Physik gibt, erkennt man daran, ob er in Büchern und sonstigen Veröffentlichungen auftritt, und das tut er.“ Diese Entgegnung greift auch die Kritik an der KPK-Darstellung der Thermodynamik sowie der Elektrodynamik auf.
Als Antwort darauf sowie angesichts des mehrfach geäußerten Wunsches, die Kritik auch mit fundamentalen Prinzipien der Physik zu begründen, haben nun wiederum die Autoren des Gutachtens am 2. April „Ergänzende Bemerkungen“ dazu veröffentlicht. Darin befassen sie sich mit dem Konzept der magnetischen Ladung und betonen im Hinblick auf die Mechanik, dass diese sich selbstverständlich auch mithilfe von Impulsströmen formulieren lasse. Wenn dies korrekt geschehe, ergebe sich allerdings unter anderem, dass in statischen Situationen kein physikalischer Impulsstrom existiert – zum Beispiel bei einer gedehnten und eingespannten Spiralfeder, in der im Rahmen der KPK-Beschreibung ein Impulsstrom fließt.
Jenseits aller rationalen Argumente verläuft die Diskussion um den KPK zunehmend emotional. So werfen Kritiker des KPK den Befürwortern „missionarischen Eifer“ vor, während Herrmann im Internet Solidaritätsbekundungen sammelt, die unter anderem von Zensur und Inquisition sprechen oder betonen, dass die fachliche Korrektheit des KPK bereits vor Jahren gezeigt worden sei. Kritisiert wird auch das Verfahren der DPG („entwürdigend“) sowie die fehlende Einbindung des Fachverbands Didaktik, dessen Mitglieder bei ihrer Versammlung während der DPG-Tagung in Jena ihr „Befremden“ über die Vorgehensweise zum Ausdruck gebracht haben. Dabei wird allerdings übersehen, dass der DPG-Vorstand den Fachverband bereits im vergangenen Herbst zu einer Stellungnahme aufgefordert hatte, dieser aber keine fachlichen Fehler im KPK erkennen konnte. Ungeachtet dieser verfahrenen Situation hat die DPG inzwischen das Gutachten an alle Kultusministerien geschickt und aus Bayern und Thüringen auch bereits die Antwort erhalten, dass die Meinung der Gutachter geteilt werde bzw. die KPK-Bücher nicht für die Schule zugelassen seien.
Stefan Jorda
Anmerkung: Inzwischen wurde die Redaktion von mehreren Lesern darauf aufmerksam gemacht, dass eine erste Fassung des DPG-Gutachtens (mit Datum vom 12. Februar) bereits Mitte Februar auf der DPG-Webseite zu finden war und damit noch bevor Friedrich Herrmann darauf erwidern konnte.