04.07.2007

Mission Müllschlucker

Anfang 2008 startet Europas erster vollautomatischer Raumtransporter. Er ist der komplizierteste und teuerste Müllschlucker der Welt.

Bremen/Noordwijk (dpa) - Das Manöver ist hoch kompliziert: Bei einem Tempo von 28.000 Kilometern pro Stunde muss ein fliegender Tank 400 Kilometer über der Erde ganz behutsam einen knapp metergroßen Trichter treffen - zehn Zentimeter Abweichung sind erlaubt. Auf diese Weise docken regelmäßig amerikanische Astronauten und russische Kosmonauten mit ihren Shuttle- oder Sojus-Raumschiffen an der Internationalen Raumstation ISS an. Künftig soll diesen Job jedoch auch «Kollege Computer» übernehmen: Anfang 2008 startet der neue Raumtransporter ATV (Automated Transfer Vehicle) zum unbemannten Premierenflug ins All. Er ist Europas erstes Fahrzeug für ein vollautomatisches Rendezvous- und Andockmanöver im Weltraum - und der komplizierteste wie auch teuerste Müllschlucker der Menschheit.

«Jules Verne» heißt das erste ATV, das nach dem französischen Schriftsteller und Vater des Science Fiction-Romans benannt ist. Das zehn Meter lange High-Tech-Gerät ist so groß wie ein Linienbus. Die Einzelteile stammen aus Europa, Russland und den USA. Im Technologiezentrum ESTEC in Noordwijk (Niederlande) der europäischen Weltraumorganisation ESA hat es soeben letzte Tests erfolgreich absolviert. Mitte Juli wird es zum Weltraumbahnhof Kourou (Französisch-Guayana) verschifft. Von dort soll der All-Transporter im nächsten Jahr auf einer Ariane-5-Rakete mit dem Ziel ISS starten.

«Es ist das komplexeste und innovativste Raumschiff, das die ESA bisher entwickelt und gebaut hat», sagt der Leiter des Milliarden- Projekts, John Ellwood, in Noordwijk. Das ATV muss zahlreiche Aufgaben bewältigen: Nach dem Start und der Trennung von der Trägerrakete fliegt es mit eigenem Schub weiter in Richtung ISS. Unterwegs muss es sich ständig neu ausrichten, navigieren und manövrieren. Schließlich das komplizierte Andocken: Die Daten von Satellitennavigation, Radarsensoren und Laserstrahlen füttern die Bordrechner, die die automatische Annäherung überwachen. Die Crew auf der ISS braucht nur noch per Kamera zuzuschauen. Im Notfall kann sie das Manöver mit einem roten Stopp-Knopf abbrechen, damit das ATV zu einem neuen Anflug ansetzt.

«Ein derartiges System gab es so noch nie», beschreibt der Bremer Ingenieur Stefan Koschade, «32 Triebwerke arbeiten unabhängig voneinander, sind aber dennoch aufeinander abgestimmt». Koschade testet das ATV seit drei Jahren für das Raumfahrtunternehmen EADS Astrium. Akustische und thermische Versuche im Vakuum, elektromagnetische Überprüfungen - das gesamte System wurde für jeden möglichen Fall gecheckt. «Das Schwierigste ist der Start: Wenn die Ariane-5-Triebwerke lospusten, wackeln die Wände wie inmitten von vier startenden Jumbo-Jets.» Gravierende Fehler hat Koschade bei den Tests nicht gefunden: «100 Prozent Sicherheit gibt es in keinem System. Ein Restrisiko bleibt, aber wir haben alles fest im Griff.»

Mit knapp zehn Tonnen kann das ATV drei Mal so viel Fracht zur Station bringen wie die ebenfalls unbemannten russischen Progress- Transporter. Im Gepäck sind Wasser, Sauerstoff, Lebensmittel, Treibstoff und Forschungsinstrumente. Ein internationales Gremium führt akribisch Buch über jeden Posten auf der Frachtliste. Doch die Zusammenarbeit hat auch Grenzen: Die Russen nehmen anderes Wasser als die Amerikaner - nationale Hygienevorschriften gehen vor.

Auch ohne Ladung muss der Frachter weitere Aufgaben erfüllen: Nach etwa einem halben Jahr koppelt das ATV von der Raumstation ab und bugsiert sie bis zu 30 Kilometer in die Höhe. Das ist regelmäßig nötig, weil sich die ISS an der Restatmosphäre reibt und täglich um rund 200 Meter absinkt. Danach beginnt die Phase «Aktion Müllschlucker»: Mit Abfällen aus der Raumstation fliegt das ATV in Richtung Erde und verglüht kontrolliert in der Atmosphäre, die Trümmer stürzen in den Südatlantik.

Für die ESA ist das Milliardenprojekt ATV neben dem Bau des Weltraumlabors Columbus der wichtigste Beitrag zum Aufbau und zum Betrieb der ISS. Bislang können nur Amerikaner und Russen Menschen und Fracht dorthin schicken. Nach «Jules Verne» sollen noch vier weitere ATV zum Stückpreis von rund 350 Millionen Euro starten. Die ESA schließt Nachbestellungen nicht aus: «Das ATV mit seiner autonomen Technologie ist Westeuropas unbemannter Zugang zum Weltraum», sagt ESA-Direktor Daniel Sacotte. Die Ingenieure tüfteln bereits an einer Folgeversion: Ein ATV könnte vor dem Verglühen noch eine Kapsel mit Hitzeschild absetzen, die wieder auf der Erde landet.

Hans-Christian Wöste, dpa

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