Ein magnetischer Käfig hält die mehr als 100 Millionen Grad Celsius heißen Plasmen in Kernfusionsanlagen auf Abstand zur Gefäßwand, damit diese nicht schmilzt. Jetzt wurde am Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik (IPP) ein Verfahren gefunden, den Abstand deutlich zu verringern. Das könnte den Bau kleinerer und günstigerer Fusionsreaktoren zur Energieerzeugung ermöglichen.
Der am weitesten fortgeschrittene Weg zur Energiegewinnung in einem Fusionskraftwerk führt über den internationalen Experimentalreaktor ITER, der gerade in Südfrankreich gebaut wird. Die Anlage verfolgt das Tokamak-Prinzip – das heißt, ein mehr als 100 Millionen Grad heißes Fusionsplasma wird in ein magnetisches Feld eingeschlossen, das die Form eines Donuts hat. Dieses Konzept verhindert, dass das heiße Plasma mit der umschließenden Wand in Kontakt kommt und diese beschädigt. Als Blaupause für ITER und spätere Fusionskraftwerke dient dabei das Experiment ASDEX Upgrade am IPP in Garching bei München. Hier wurden wichtige Elemente für ITER entwickelt. Und hier lassen sich bereits heute Plasma-Betriebszustände und Komponenten für spätere Kraftwerke erproben.
Ein zentrales Element von ASDEX Upgrade und aller modernen Magnetfusionsanlagen ist der Divertor. Es handelt sich dabei um einen Teil der Gefäßwand, der besonders hitzebeständig ist und der besonders aufwändig konstruiert ist. „Am Divertor führen wir Wärme aus dem Plasma. In späteren Kraftwerken soll dort auch das Fusionsprodukt Helium-4 ausgeleitet werden“, erklärt Prof. Ulrich Stroth, Leiter des Bereichs Plasmarand und Wand am IPP. „In dieser Wandregion ist die Belastung besonders hoch.“ Die Divertor-Prallplatten von ASDEX Upgrade und auch von ITER sind deshalb aus Wolfram – dem chemischen Element mit der höchsten Schmelztemperatur überhaupt (3422 °C).
Ohne Gegenmaßnahmen würden 20 Prozent der Fusionsleistung im Plasma auf die Divertoroberflächen treffen – mit etwa 200 Megawatt pro Quadratmeter wären das in etwa Bedingungen wie auf der Sonnenoberfläche. Der Divertor in ITER und auch künftigen Fusionskraftwerken wird aber nur maximal 10 Megawatt pro Quadratmeter verkraften können. Deshalb werden dem Plasma geringe Mengen an Verunreinigungen (häufig Stickstoff) zugesetzt. Diese entziehen ihm den Großteil seiner Wärmeenergie, indem sie diese in ultraviolettes Licht umwandeln. Trotzdem muss der Plasmarand (die Separatrix) auf Abstand zum Divertor gehalten werden, um diesen zu schützen. Bislang waren das in ASDEX Upgrade mindestens 25 Zentimeter (gemessen von der unteren Plasmaspitze – dem X-Punkt – bis zu den äußeren Kanten des Divertors).
Jetzt ist es Forschenden am IPP gelungen, die Distanz auf unter 5 Zentimeter zu verringern, ohne die Wand zu schädigen. „Wir setzen dafür gezielt den X-Punkt-Strahler ein – ein Phänomen, das wir vor etwa einem Jahrzehnt bei Experimenten an ASDEX Upgrade entdeckt haben“, sagt IPP-Forscher Dr. Matthias Bernert. „Der X-Punkt-Strahler tritt in dafür speziell geformten Magnetfeldkäfigen auf, wenn die Menge der Stickstoff-Verunreinigung einen bestimmten Wert überschreitet.“ Es bildet sich dann ein kleines, dichtes, besonders stark im UV-Bereich strahlendes Volumen. „Die zugesetzte Verunreinigung bringt uns zwar etwas schlechtere Plasmaeigenschaften, aber wenn wir den X-Punkt-Strahler durch Variation des Stickstoffeintrags gezielt platzieren, können wir die Experimente bei höheren Leistungen betreiben, ohne die Anlage zu schädigen“, erklärt Bernert.
In Kameraaufnahmen aus dem Vakuumgefäß ist der X-Punkt-Strahler (kurz: XPR – für X-Point Radiator) als blau leuchtender Ring im Plasma zu erkennen, weil neben der UV-Strahlung auch sichtbares Licht emittiert wird. IPP-Forschende haben den XPR zuletzt intensiv untersucht. Dennoch spielte bei der jetzigen Entdeckung auch der Zufall eine Rolle: „Versehentlich sind wir mit dem Plasmarand deutlich näher an den Divertor herangegangen, als geplant“, erzählt IPP-Physiker Dr. Tilmann Lunt. „Wir waren sehr überrascht, dass ASDEX Upgrade damit problemlos klargekommen ist.“ Weil sich der Effekt in weiteren Experimenten bestätigen ließ, wissen die Forschenden jetzt: Bei Einsatz des X-Punkt-Strahlers wird deutlich mehr Wärmeenergie in UV-Strahlung umgewandelt, als bisher angenommen. Das Plasma strahlt dann bis zu 90 Prozent der Energie in alle Richtungen ab.
Daraus ergeben sich Folgerungen, die sehr günstig für den Bau künftiger Fusionskraftwerke sein können:
- Divertoren können kleiner und technologisch deutlich einfacher gebaut werden als bisher (Compact Radiative Divertor).
- Weil das Plasma näher an den Divertor rückt, lässt sich das Vakuumgefäß besser ausnutzen. Erste Rechnungen zeigen, dass sich bei optimaler Formung des Gefäßes fast eine Verdopplung des Plasmavolumens erreichen ließe – bei gleichbleibenden Maßen. Damit würde auch die erzielbare Fusionsleistung steigen. Aber das müssen die Forschenden erst in weiteren Experimenten verifizieren.
Außerdem wirkt der gezielte Einsatz des X-Punkt-Strahlers auch gegen so genannte Edge Localized Modes (ELMs) – das sind heftige Energieeruptionen am Plasmarand, die in regelmäßigen Zeitabständen wiederkehren und etwa ein Zehntel der Plasmaenergie Richtung Wand schleudern. ITER und künftige Fusionsreaktoren würden dabei beschädigt werden.
„Wir haben es mit einer bedeutenden Entdeckung in der Fusionsforschung zu tun“, urteilt deshalb auch IPP-Bereichsleiter Ulrich Stroth. „Der X-Punkt-Strahler eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten bei der Entwicklung eines Kraftwerks. Wir werden ihn jetzt theoretisch aber vor allem auch in weiteren Experimenten an ASDEX Upgrade genauer untersuchen.“ Der Garchinger Tokamak wird dafür bald bestens gerüstet sein: Bis zum Sommer 2024 wird er umgebaut und mit einem neuen oberen Divertor ausgestattet. Dessen spezielle Spulen werden es ermöglichen, das Magnetfeld nahe am Divertor beliebig zu verformen – und damit auch die Bedingungen für den X-Punkt-Strahler zu optimieren.
IPP / LK