Molekulare Mechanismen für die Arzneimittel-Entwicklung

Dynamik von Bindungs- und Abdiffusions-Prozessen auf einer Zeitskala von Sekunden bis zu einer halben Minute vorhersagbar.

Molekulardynamik-Simulationen sind in den modernen Biowissen­schaften allgegen­wärtig geworden. Dabei werden die Wechsel­wirkungen zwischen Atomen und Molekülen sowie deren sich daraus ergebenden räumlichen Bewegungen schrittweise berechnet und dargestellt. Wissen­schaftler versuchen derzeit, bei diesem Analyse­prozess den Zugang zu biologisch relevanten Längen- und Zeitskalen zu erlangen. Das ist nötig, um molekulare Prozesse wie Protein­faltung und Protein-Medikamenten­bindung zu beschreiben, was zum Beispiel für die moderne Arzneimittel-Entwicklung entscheidend ist. Einem Team um Steffen Wolf und Gerhard Stock an der Uni Freiburg ist es jetzt gelungen, in pharmako­logisch relevanten Testsystemen die Dynamik von Bindungs- und Abdiffusions­prozessen auf einer Zeitskala von Sekunden bis zu einer halben Minute vorher­zusagen.

Abb.: Um die Systemdynamik zu vereinfachen, haben Physiker die...
Abb.: Um die Systemdynamik zu vereinfachen, haben Physiker die dissipationskorrigierte „targeted“ Molekulardynamik-Simulationen entwickelt. (Bild: S. Wolf, ALU)

Aufgrund der Notwendigkeit, atomistische Simulationen mit einer zeitlichen Auflösung von Femto­sekunden durch­zu­führen, können Forscher Vorgänge, die Sekunden und mehr benötigen, wie zum Beispiel das Binden und Lösen von Wirkstoffen an und von ihrem jeweiligen Zielprotein, noch nicht explizit berechnen. Ein möglicher Ansatz, um Simulationen zu beschleunigen ist die Grobkörnung der gesamten System­dynamik, die eine Domäne der statistischen Mechanik des Nicht­gleich­gewichts ist.

Dafür müssen langsame Prozesse wie die Protein-Liganden-Abdiffusion und schnelle Prozesse wie Protein-Vibrationen oder Wasser­fluktuationen zeitlich getrennt werden. Erst dann können die Wissen­schaftler die Langevin-Gleichung verwenden, eine stochastische Differential­gleichung, mit der die Dynamik entlang der relevanten langsamen Freiheits­grade eines physikalischen Systems beschrieben wird. Mit dieser Gleichung stellen sie die Dynamik des Systems entlang einer Reaktions­koordinate wie der Entfernung des Liganden von seiner Bindungs­stelle dar. Alle anderen, schnelleren Bewegungen werden als Reibung berück­sichtigt.

Um diese erforderliche Verein­fachung der System­dynamik zu erreichen, haben die Physiker die dissipations­korrigierte „targeted“ Molekular­dynamik, kurz dcTMD, entwickelt und mittels Rechnungen auf dem Hochleistungs­rechner BinAC an der Uni Tübingen getestet. Durch Anwendung einer Zwangskraft, um ein System aktiv entlang einer interes­sierenden Koordinate zu ziehen, kann die erforder­liche Zugarbeit in freie Energie und Reibungs­felder des Prozesses zerlegt werden. In der aktuellen Studie zeigen die Forscher, dass diese dcTMD-Felder als Input für eine Simulation der Langevin-Gleichung entlang des Zugkoordi­nators verwendbar sind.

Dadurch konnten sie die notwendige Rechen­leistung stark reduzieren. Die Simulations­zeit von einer Milli­sekunde ist so innerhalb von einigen Stunden auf einem einzigen Rechenkern eines Standard-Desktop-Computers erreichbar. Zudem verändern Langevin-Felder im Gegensatz zu vollständig atomistischen Proteinen bei höheren Temperaturen nicht ihre Struktur. „Daher können Hoch­temperatur­simulationen eine beschleunigte Dynamik erzeugen. Diese können wir nutzen, um die Dynamik bei einer niedrigeren interes­sierenden Temperatur wieder­her­zustellen, bei der sich die Felder aus gezielten MD-Simula­tionen ableiten“, so Stock.

Die Wissenschaftler haben die die Aufspaltung von Natrium­chlorid und von zwei Protein-Ligand-Komplexen als Testsysteme verwendet. In diesen gelang es ihnen, die Dynamik von Bindungs- und Entbindungs­prozessen auf einer Zeitskala von Sekunden bis zu einer halben Minute vorher­zusagen. „Während die Langevin-Felder nur aus Entbindungs­simulationen erzeugt wurden, konnten sie sowohl Entbindungs- als auch Bindungs­kinetiken innerhalb eines Faktors 20 und Dissoziations­konstanten innerhalb eines Faktors 4 vorhersagen, was im Vergleich mit anderen Vorhersage­methoden im besten erreichbaren Bereich liegt“, erläutert Wolf.

Gleichzeitig erfordere dieser neue dcTMD-Ansatz nur ein Zehntel der Rechenleistung als andere Vorhersage­methoden. Nicht zuletzt erlaube die Bestimmung von Reibungs­profilen einen Einblick in molekulare Prozesse, die die freie Energie nicht aufzeigt, betonen die Forscher. In allen unter­suchten Systemen scheint die Bildung einer Hydratations­schale aus Wasser die Hauptquelle der Reibung zu sein. Das erlaubt, neue Möglich­keiten für das Design von Medika­menten mit gewünschter Bindungs- und Abdiffusions­kinetik abzuleiten.

ALU / RK

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