29.12.2016

Myonen geben Rätsel auf

Jahresrückblick Kern- und Astro-/Teilchenphysik 2016.

Das zurückliegende Jahr hat der Kern- und Teilchenphysik nicht nur einige überraschende Erkenntnisse gebracht. Es hinterlässt den Wissenschaftlern auch einige Rätsel, die in den kommenden Jahren anzugehen sein werden. Eine besonders dicke Nuss ist mit dem Myonen-Überschuss zu knacken, der bei hochenergetischen kosmischen Schauern auftritt. Forscher des auf extrem hochenergetische Teilchenschauer ausgelegten Auger-Observatoriums in der argentinischen Pampa haben in ihren Daten einen deutlichen Überschuss an Myonen gemessen, der mit üblichen Modellen kaum erklärbar scheint. Das Besondere dabei: Auger misst Primärteilchen mit Energien von bis zu 1019 Elektronenvolt. Dies ergibt bei Kollisionen mit den Luftmolekülen der oberen Luftschichten eine Schwerpunktsenergie von 110 bis 170 TeV – mehr als das Zehnfache dessen, was der Large Hadron Collider zu leisten imstande ist. Macht sich hier neue Physik bemerkbar? Oder sind in den Rechnungen gewöhnliche Phänomene unzureichend berücksichtigt? Die Auger-Daten sind über einen Zeitraum von zehn Jahren akkumuliert, werden sich aber mit der kommenden Ausbaustufe zu „Auger Prime” noch einmal verbessern, wenn die Bodenstationen zusätzliche Szintillatoren erhalten.

Abb.: Die Experimentierhalle des Paul-Scherrer-Instituts, in der das Experiment zur Deuterongröße durchgeführt wurde. (Bild: Scanderbeg Sauer Photography)

Eine andere überraschende Messung hängt ebenfalls mit Myonen zusammen – allerdings nicht mit hochenergetischen, sondern mit solchen, die sich von einem Deuteron haben einfangen lassen. Frühere Messungen an myonischem Protium hatten bereits einen kleineren Radius ergeben, als sich anhand früherer Messungen und Rechnungen erwarten ließ. Die neuen Messungen bestätigten jetzt den verringerten Radius auch für myonisches Deuterium. Das muss noch kein Hinweis auf Physik jenseits des Standardmodells sein, aber zumindest die vermeintlich hochexakt bekannte Rydberg-Konstante könnte jetzt ins Straucheln kommen.

Auch die Neutrinos hatten dieses Jahr wieder einige interessante Ergebnisse zu bieten, wenngleich sie weniger überraschten als die Myonen. Wie frühere Experimente auch konnte das KamLAND-Zen-Experiment keinen neutrinolosen Doppelbetazerfall nachweisen. Die Wissenschaftler des Untergrund-Observatoriums im japanischen Kamioka konnten allerdings die Schranke für solche Zerfälle weiter verbessern. Die Frage, ob Neutrinos Majorana-Teilchen sind, bleibt damit weiter offen. Auch das Gewicht von Neutrinos ist weiterhin nicht bekannt. Das KATRIN-Experiment am Karlsruher Institut für Technologie soll nun Neutrinos auf die Waage bringen und eine zehnfach genauere Massenbestimmung als frühere Experimente erlauben.

Eine fundamentale Vorhersage der Quantenphysik konnten Forscher mit einem Neutrino-Experiment am Fermilab bei Chicago bestätigen. Sie schossen den Teilchenstrahl des Beschleunigers auf ein Target in einem schräg nach unten reichenden Strahlrohr. Die zerfallenden Teilchen lieferten einen Neutrinostrahl, den ein Detektor in der 735 Kilometer entfernten Soudan-Mine registrierte. Die über diese Distanz auftretenden Neutrino-Oszillationen bestätigten die Leggett-Garg-Ungleichung – ähnlich wie die Bellsche Ungleichung ein Test für die Korrelationen in einem quantenphysikalischen System.

Abb.: Der Gammahimmel im Umfeld des Blazars PKS B1424-418, auf­ge­nommen mit dem LAT-Detektor von Fermi. Die Farben zeigen die Inten­sität der Gamma­strahlung. Der ge­strichelte Kreis zeigt den wahr­schein­lichen Bereich, in dem Big Bird statt­ge­funden hat. Links: Fermi-LAT-Daten, gemittelt über 300 Tage um den 8. Juli 2011, während denen der Blazar nicht aktiv war. Rechts: Fermi-LAT-Daten, ge­mittelt über 300 Tage um den 27. Februar 2013, während denen PKS B1424-418 den hellsten Blazar in diesem Bereich des Himmels dar­stellte (zum Vergrößern auf das Bild klicken, Bild: NASA / DOE / LAT Coll.).

Eine andere Messung war lange erwartet worden: Die Herkunft energiereicher kosmischer Neutrinos war lange ungeklärt. Im Prinzip vermutet man die selben Quellen wie bei anderen hochenergetischen Teilchen aus den Tiefen des Alls. Das Südpol-Neutrino-Observatorium IceCube konnte bereits vor rund vier Jahren ein „Big Bird” getauftes Neutrino mit einer Energie von mehr als zwei Peta-Elektronenvolt nachweisen. Jetzt ergaben Analysen, dass dieses ultra-hochenergetische Neutrino mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem Blazar-Ausbruch zum selben Zeitpunkt zusammenhängt.

Aber auch bei leichter zu messenden Teilchen sind die Quellen der kosmischen Strahlung nicht genau bekannt. So könnte der extragalaktische Gamma-Hintergrund zu einem gewissen Teil von Quasar-Schockfronten stammen. Bislang gab es hier eine Lücke zwischen Messdaten und theoretischen Modellen. Insbesondere das Square Kilometer Array dürfte hier in Zukunft für Aufklärung sorgen. Auch im Zentrum unserer Milchstraße sitzt ein Super-Teilchenbeschleuniger, der ultrahochenergetische Gammastrahlung emittiert. Wie Forscher des HESS-Observatoriums im namibischen Hochland anhand des Gamma-Spektrums feststellten, bringt das supermassereiche schwarze Loch im Herzen unserer Galaxie Protonen auf Energien bis zu einem Peta-Elektronenvolt.

Der Krebspulsar will da nicht zurückstecken: Das MAGIC-Observatorium auf der Kanaren-Insel La Palma konnte von ihm kommende Gammastrahlen mit überraschend hohen Energien bis hin zu 1,5 TeV nachweisen. Der Erzeugungsmechanismus der ultra-hochenergetischen Primärteilchen um diesen Neutronenstern ist noch nicht geklärt. An einem wesentlich weiter entfernten Objekt konnte die MAGIC-Kollaboration jetzt auch Einsteins Relativitätstheorie testen. Ein intensiver Gamma-Ausbruch eines sieben Milliarden Lichtjahre entfernten Blazars wurde dank des Gravitationslinsen-Effekts einer dazwischen liegenden Galaxie verdoppelt – wobei der zweite Strahl elf Tage später ankam als der erste. Das bestätigt nicht nur die Relativitätstheorie, sondern ist auch die erste gelungene Gravitationslinsen-Messung bei solch energiereicher Strahlung.

Mit einem Knopfdruck starteten KIT-Vizepräsident Oliver Kraft, KATRIN-Co-Sprecher Guido Drexlin, KIT-Bereichsleiter für Physik und Mathematik, Johannes Blümer, Ernst Otten von der Universität Mainz und Hamish Robertson von der University of Washington in Seattle die Anlage KATRIN. (Bild: Patrick Langer / KIT)

Bei nicht ganz so energiereichen Teilchen treten ebenfalls ungewöhnliche Spektren auf. So ließen Anomalien im Spektrum kosmischer Positronen Raum für Spekulationen über den Einfluss dunkler Materie. Es sind aber wohl Schwankungen des Sonnenmagnetfelds, die für das eigenartige Spektrum kosmischer Positronen verantwortlich sind und die Positronen auf krumme Bahnen zwingen. Hingegen könnten hochenergetische Elektronen in den äußersten Schichten der Erdatmosphäre aus magnetischen Rekonnexionen stammen. Darauf deuten Daten der neuen NASA-Satellitenmission Magnetospheric Multiscale Mission hin.

Unerwartete Fluktuationen gab es auch im Mikrokosmos: So haben Forscher des Brookhaven Lab alte Daten des Hamburger HERA-Beschleunigers noch einmal neu analysiert und sind dabei auf ungewöhnlich starke Fluktuationen der Gluonverteilung gestoßen. Auch die Form von Atomkernen ist nicht immer so rund, wie weithin angenommen. Dank neuer Simulationen und Messungen stellt sich heraus: Einige Atomkerne sind durchaus kugelrund, andere hingegen länglich wie ein Rugby-Ei oder diskusförmig.

Die Entwicklung neuer Laborquellen für Gammastrahlung nahm 2016 weiter Fahrt auf. Starke Laserpulse, die auf ein Plastik-Target treffen, vermögen überraschend harte Gammastrahlung zu erzeugen. Auch in der medizinischen Diagnostik eröffnen sich dank Gammastrahlung neue Möglichkeiten. Amerikanische Physiker nutzten die Gammastrahlung von vergleichsweise wenigen radioaktiven Edelgasatomen, um mit Hilfe von Magnetresonanzverfahren räumliche Bilder zu erzeugen. Allerdings werden sowohl bei diesem Verfahren als auch bei den Plastik-Gamma-Pulsen in den kommenden Jahren einige Verbesserungen nötig sein, bevor sie Praxisreife erlangen.

Abb.: Aufbau eines Gammastrahlen-Detektors, der die Basis für ein neues bildgebendes Verfahren für medizinische Diagnosen legen könnte. (Bild: G. Cates)

Eine schon seit langer vorbereitete Methode erlaubte nun die spektroskopische Bestimmung der Struktur von Nobelium-254. Dies ist die erste laserspektroskopische Messung an einem solchen superschweren Trans-Fermium-Element, das instabil ist und sich nur in äußerst geringen Mengen herstellen lässt. Mit solchen Messungen lassen sich insbesondere Informationen zu Größe und Form des jeweiligen Atomkerns gewinnen. Wie sich nun die Phasenübergänge in Kernmaterie verhalten, konnten neue Simulationen klären helfen. Je nachdem, wie stark die lokalen und nichtlokalen Wechselwirkungen waren, überwog ein Alphagas oder eine Neutronensuppe.

Dirk Eidemüller

OD

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