08.04.2021

Myonen kratzen am Standardmodell

Experimentelle Ergebnisse der Myon g-2 Kollaboration zeigen mehr als vier Sigma Abweichung vom Theoriewert.

Es wurde mit großer Spannung erwartet: Die Myon g-2 Kollaboration hat nun erste Resultate ihrer Messungen zum anomalen magnetischen Moment des Myons veröffentlicht – eine Präzisions­größe, welche einen der vielversprechendsten Tests der Vorhersagen des aktuell gültigen Standardmodells der Teilchen­physik ermöglicht. Mit dem nun gemessenen Wert, der genauer ist als alle Werte zuvor, verdichten sich die Hinweise auf eine neue Physik jenseits dieses Standard­modells und damit auf die Existenz bisher unbekannter Teilchen oder Kräfte. Das Ergebnis wurde bei einem online-Seminar am Fermilab (FNAL) vorgestellt.
 

Abb.: Blick auf das Myon g-2 Experiment (Bild: Fermilab)
Abb.: Blick auf das Myon g-2 Experiment (Bild: Fermilab)

„Im Jahr 2014 habe ich als Postdoktorand an der University of Washington, Seattle, begonnen, am Myon g-2 Experiment zu arbeiten“, sagt Martin Fertl, der seit 2019 im Bereich der Nieder­energie­teilchen­physik am Exzellenz­cluster Prisma+ forscht. „Deshalb ist heute ein ganz besonderer Tag. Wir können ein erstes Ergebnis verkünden und gleichzeitig sagen, dass dieses Ergebnis die Tür zu einer bisher unbekannten Physik noch weiter geöffnet hat.“

Der veröffentlichte neue experimentelle Wert für das anomale magnetische Moment des Myons lautet a(FNAL) = 116.592.040(54) × 10-11 und hat eine relative Unsicherheit von 460 Teilen in einer Milliarde. Mit dem Ergebnis des vor mehr als zwanzig Jahren abgeschlossenen Experiments am Brookhaven National Laboratory ergibt sich ein neuer experimenteller Mittelwert von a(Exp.,avg.) = 116.592.061(41) × 10-11. Demgegenüber steht die theoretische Vorhersage im Rahmen des Standardmodells a(Theor.) = 116.591.810(43) × 10-11. Den Unterschied der beiden Werte klassifizieren die Physiker mit 4,2 Standard­abweichungen. Das bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Abweichung zwischen Experiment und Theorie zufällig ist, beträgt 0,0025 Prozent (1 in 40.000). Von einer Entdeckung – in diesem Fall der Widerlegung des Standard­modells – sprechen die Physiker ab einer Wahrscheinlichkeit, die kleiner als 0,00005 Prozent ist und fünf Standardabweichungen entspricht. 

Die Prisma+-Arbeitsgruppe um Martin Fertl ist die Einzige in Deutschland, die mit experimentellen Beiträgen an der Myon g-2 Kollaboration beteiligt ist. Das Pendant ist die „Myon g-2 Theorie Initiative“: ein weltweiter Zusammenschluss von mehr als 130 Forschern, der sich mit der theoretischen Vorhersage im Rahmen des Standardmodells befasst. Die Initiative wurde im Jahr 2017 gegründet, um mit gebündelten Kräften die Unsicherheit dieses Vorhersagewerts für das anomale magnetische Moment des Myons signifikant zu reduzieren. „Erst im letzten Jahr haben wir erstmals einen gemeinsamen Standard gesetzt und uns weltweit auf einen neuen theoretischen Wert verständigt“, berichtet Hartmut Wittig, theoretischer Physiker und zugleich Sprecher des Exzellenz­clusters Prisma+. „Unser Ziel ist es, parallel zum Experiment auch die theoretische Vorhersage immer weiter zu verfeinern.“ Die Physiker von Prisma+ leisten hier entscheidende Beiträge, von der Messung experimenteller Input-Größen bis hin zur hochpräzisen Berechnung der Beiträge der starken Wechselwirkung mit den Methoden der Gitter-Quanten­chromodynamik auf dem Großrechner Mogon-II der JGU.

Erstmals trat eine Diskrepanz – mit 3,7 Standard­abweichungen – beim Vergleich zwischen theoretischer Vorhersage und dem Ergebnis des oben genannten Experiments am Brookhaven National Laboratory zu Tage. In den seitdem vergangenen zwanzig Jahren war es Ziel weltweiter Untersuchungen herauszufinden, ob diese Abweichung echt oder lediglich Folge systematischer Unsicherheiten in Theorie und Experiment ist. Um die magnetischen Eigenschaften des Myons so genau wie nie zuvor zu vermessen, wurde das aktuelle Myon g-2 Experiment entwickelt. In der Myon g-2 Kollaboration arbeiten mehr als 200 Wissenschaftler von 35 Institutionen aus sieben Ländern.

Das Myon ist der schwere Bruder des Elektrons und lebt nur für den millionstel Bruchteil einer Sekunde. Es besitzt ein magnetisches Moment. Es hat auch einen Spin. Der g-Faktor ist das Verhältnis der beobachteten Stärke des Magneten zu einer einfachen Schätzung auf der Basis der elektrischen Ladung, Masse und Spin des Myons. Das Myon g-2-Experiment hat seinen Namen daher, dass der g-Faktor des Myons ein wenig – um etwa 0,1 Prozent – von der einfachen Erwartung g=2 abweicht. Diese Anomalie wird gemeinhin als das anomale magnetische Moment des Myons bezeichnet (a = (g-2)/2). Das Myon g-2 Experiment vermisst die Rotationsfrequenz der “internen Kompass­nadel” der Myonen in einem Magnetfeld, sowie das Magnetfeld selbst und bestimmt daraus das anomale magnetische Moment. Der Myonenstrahl wird am Myonen-Campus des FNAL speziell für das Experiment erzeugt und weist eine bisher nicht erreichte Reinheit auf.

„Wir erreichen bereits bei unserer ersten Analyse, die wir heute vorstellen, eine Genauigkeit, die schon etwas besser ist als bei dem Vorgänger­experiment – und haben dazu erst weniger als sechs Prozent des geplanten Datensatzes ausgewertet“, konkretisiert Martin Fertl. „Unser Ziel, am Ende mit dem neuen Myon g-2 Experiment eine, um den Faktor vier, höhere Genauigkeit von 140 Teilen zu einer Milliarde zu erzielen, erscheint damit sehr realistisch.“

Die aktuell ausgewerteten Daten stammen aus der ersten Messrunde im Jahr 2018 – es sind bereits mehr Daten als in allen vorherigen g-Faktor Experimenten zusammen­genommen. Die zweite und dritte Runde sind ebenfalls bereits „im Kasten“. Nachdem die dritte Runde aufgrund der weltweiten Corona-Pandemie abrupt vorzeitig abgebrochen werden musste, wird derzeit die vierte Runde mit strengen Sicherheits­auflagen und weitgehend ferngesteuert fortgeführt. Eine fünfte Runde soll im Herbst 2021 starten. 

Um die Analysen möglichst objektiv zu gestalten, arbeiten mehrere Analyseteams parallel und unabhängig voneinander. Zudem kommen Techniken der Verblindung, wie man sie aus medizinischen Studien kennt, zum Einsatz: Zunächst beziehen die Analyseteams die Frequenzen, die sie messen, auf eine Uhr, die in ihrer Gangart leicht verändert wurde – und nun zu schnell oder zu langsam läuft. Bei einer Wanduhr würden damit beispielsweise sechzig Schwingungen des Pendels nicht genau einer Minute entsprechen, sondern etwas mehr oder weniger. Den Faktor, um den die Uhr verstellt wurde – im Experiment entspricht dies einem bestimmten Signal an den Frequenz­messgeräten – kennen nur zwei Personen außerhalb der Kollaboration. Erst wenn die relativen Ergebnisse der einzelnen Teams untereinander konsistent sind (relative Entblindung), wird dieser Faktor bekannt gegeben und kann mit eingerechnet werden. Diese absolute Entblindung fand für die jetzt vorgestellte Auswertung Ende Februar 2021 statt.

Die Spezialität von Martin Fertl und seiner Arbeits­gruppe ist die extrem präzise Vermessung des Magnetfelds im Myonen-Speicherring über die gesamte mehrjährige Messzeit. Bereits an seiner früheren Wirkungsstätte leitete er dazu die Entwicklung einer Anordnung hochempfindlicher Magnetometer, die auf dem Prinzip der gepulsten Kernspin­resonanz basieren. Mehrere hundert dieser Messköpfe sind in den Wänden der die Myonen umgebenden Vakuumkammern installiert. Weitere 17 Messköpfe umrunden ferngesteuert den Speicherring, der einen Durchmesser von 14 Metern hat, um das angelegte Magnetfeld noch umfassender zu vermessen. „Mithilfe weiterer Kalibrierungs­systemen wollen wir das Magnetfeld im Myonen-Speicherring mit nie zuvor erreichter Genauigkeit bestimmen. Nur wenn wir das Magnetfeld sehr genau verstehen und auch vermessen können, sind wir in der Lage, das anomale magnetische Moment des Myons mit maximaler Präzision zu bestimmen“, sagt Martin Fertl. „Um letzteres mit einer Genauigkeit von 140 Teilen zu einer Milliarde angeben zu können – das entspräche der angestrebten vier Mal besseren Genauigkeit gegenüber dem Vorgängerexperiment –, müssen wir in der Lage sein das Magnetfeld, in dem sich die Myonen bewegen, auf 70 Teile zu einer Milliarde genau zu vermessen.“

Auf dem Weg dorthin sind die Forscher auf sehr interessante und bisher unbekannte Effekte gestoßen: „Zum Beispiel haben wir erstmals kleine, aber bedeutende zeitliche Veränderungen im Magnetfeld registriert – und spezielle Messköpfe entwickelt, um diesen Effekt genau zu vermessen. So verbessern wir unser Verständnis des Magnetfelds und entwickeln damit unser Myon g-2 Experiment kontinuierlich weiter. Mit diesem ‚Work in Progress‘ wollen wir unserem großen Ziel in den nächsten Jahren immer näherkommen und die Frage, ob das anomale magnetischen Moment des Myons der Schlüssel zu einer neuen Physik ist, definitiv beantworten.“ 

JGU / DE

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