07.11.2016

Myonen-Überschuss bei kosmischen Schauern

Ultrahochenergetische Teilchenschauer erzeugen mehr Myonen, als Extra­pola­tionen vor­her­sagen.

Bereits seit einigen Jahren macht das Myon-Rätsel von sich reden. Experi­mente an irdischen Detek­toren, die den Himmel nach Signalen kosmischer Strahlung ab­suchen, meldeten immer wieder einen gewissen Über­schuss an Myonen, der gängigen Modellen zu wider­sprechen scheint. Jetzt hat die Pierre-Auger-Kolla­bo­ration quali­tativ besonders hoch­wertige Daten aus über zehn Jahren Mess­zeit analy­siert, die auf einen signi­fi­kanten Myonen­über­schuss hin­weisen. Das legt den Schluss nahe, dass bei den extrem hohen Teilchen­energien, die weit über dem liegen, was Beschleu­niger­experi­mente heute leisten können, uner­wartete Pro­zesse auf­treten, die von heutigen theore­tischen Modellen nicht korrekt berück­sich­tigt werden.

Abb.: Ein Teilchenschauer (rote Linie) hinter­lässt ein Signal in den Tsche­renkow-Tanks am Boden (weiße Punkte). Fluores­zenz-Tele­skope an vier Ecken des Obser­va­to­riums ermit­teln den Energie­ver­lust in der Atmo­sphäre (blaue Linie; Bild: C. Cain / APS).

Das Pierre-Auger-Observatorium befindet sich im argen­ti­nischen Hoch­land in der Provinz Mendoza, rund 1400 Meter über dem Meeres­spiegel. Das Ob­ser­va­­torium besitzt zwei Kompo­nenten, die unab­hängig vonein­ander arbeiten können, in Kombi­nation aller­dings besonders präzise Daten liefern. Über eine Fläche von 3000 Quadrat­kilo­metern verteilt befinden sich 1660 Tsche­renkow-Detek­toren. Das sind mit je zwölf Kubik­meter Wasser gefüllte Tanks, die in einem Dreieck­muster in je 1,5 Kilo­metern Abstand aufge­stellt sind. An vier Eck­punkten des Areals befinden sich zudem insge­samt 27 Tele­skope, die den Himmel über den Tsche­renkow-Detek­toren nach Fluores­zenz­licht ab­suchen. Die Fluores­zenz-Tele­skope lassen sich aber nur in mond­losen Nächten be­trei­ben, was rund 13 Prozent der Beob­achtungs­zeit ent­spricht.

Das Observatorium ist das weltgrößte für die Beobachtung extrem hoch­ener­ge­tischer Teil­chen. Die große Fläche ist nötig, weil der Fluss an solch extrem hoch­energe­tischer kos­mischer Strahlung bei Energien um die 1019 eV und darüber auf ein Teil­chen pro Quadrat­kilo­meter und Jahr und dann noch weiter ab­fällt. Für die neue Ana­lyse hat die Kolla­bo­ration insge­samt 411 Ereig­nisse aus den Jahren 2004 bis 2012 ausge­wertet, die sowohl in den Tsche­renkow- als auch in den Fluores­zenz-Detek­toren sichtbar waren.

Bei Primärenergien der kosmischen Strahlung um 1019 eV ergibt sich bei Kolli­sionen mit den Luft­mole­külen der oberen Luft­schichten eine Schwer­punkts­energie von 110 bis 170 TeV, also mehr als das Zehn­fache dessen, was mit dem Large Hadron Collider erreich­bar ist. Die Primär­teil­chen bei solchen Energien sind haupt­säch­lich Protonen und andere Atom­kerne. Wenn diese hoch­energe­tischen Teil­chen auf die Atmo­sphäre treffen, lösen sie hadro­nische und elektro­magne­tische Schauer aus. Bei den hadro­nischen Schauern entstehen neben Protonen und Neutronen auch viele Pionen. Die unge­la­denen Pionen zer­fallen prak­tisch instan­tan in zwei Gammas und leiten so Energie in die elektro­magne­tische Kompo­nente eines solchen Teil­chen­schauers. Geladene Pionen über­leben bei hohen Energien lange genug, um weiter hadro­nisch wechel­zu­wirken. Sinkt ihre Energie weit genug, zer­fallen sie und er­zeugen dabei unter anderem Myonen.

Das Myonen-Signal am Boden hängt damit an mehreren Faktoren. Je nach­dem, wie­viele Gene­ra­tionen hadro­nischer Inter­aktionen statt­finden und in welcher Höhe sich diese ereig­nen, und je nach­dem, wie­viel Energie durch­schnitt­lich in elektro­magne­tische Schauer über­tragen wird, erhöht oder ver­rin­gert sich die Anzahl ent­ste­hender Myonen. Da viele dieser Pro­zesse statis­tischen Schwan­kungen unter­liegen, simu­lierten die Wissen­schaftler jeden Teilchen­schauer tausende Male mit unter­schied­lichen Para­metern mit Monte-Carlo-Modellen. Diese Modelle sind anhand von Beschleu­niger­daten kali­briert – lieferten aber um dreißig bis sechzig Prozent weniger Myonen, als die Wissen­schaftler nun messen konnten.

Auch bei früheren Experimenten war bereits eine Abweichung der Myon-Häufig­keit bei extrem hoch­energe­tischen Teil­chen­schauern aufge­fallen. Sowohl das HiRes- und MIA-Array in Utah als auch das Pierre-Auger-Obser­va­torium hatten – zum Teil schon vor Jahren – einen Über­schuss an Myonen bei bestimmten Schauer­bedin­gungen regis­triert. Diesen Mes­sungen lag jedoch jeweils eine Daten­ana­lyse zugrunde, die keine besonders gute Energie­auf­lösung hatte oder die sich auf bestimmte Schauer-Geome­trien bezog – die also zum Beispiel nur Ereig­nisse in einem bestimmten Zenit­winkel berück­sich­tigte. Die neuen Mes­sungen bestä­tigen diese früheren Mes­sungen nicht nur, sie liefern auch eine über­zeu­gende Statis­tik unab­hängig von speziellen geome­trischen Voraus­setzungen.

Damit stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieses deutlichen Myonen-Über­schusses. Neben der Vermu­tung, neu­artige physi­ka­lische Phäno­mene könnten sich in solch hoch­energe­tischen hadro­nischen Pro­zessen nieder­schlagen, verbleibt natür­lich auch die Möglich­keit, dass die der­zei­tigen theore­tischen Modelle bestimmte Aspekte bei hadro­nischen Kolli­sionen nicht korrekt wieder­geben. Da die Modelle bei solch hoch­energe­tischen Kolli­sionen Extra­pola­tionen von Modellen bei deut­lich niedri­geren Energien sind – wie sie an Teilchen­beschleu­nigern vor­liegen –, wäre das viel­leicht auch ein Hinweis darauf, dass tief in der Theorie Prozesse unter­schätzt werden, die eigent­lich auch bei niedri­geren Energien eine Rolle spielen und dort ledig­lich nicht so stark sicht­bar werden.

In der derzeitigen Ausbaustufe ist es leider nicht möglich, in den Boden­stationen zwischen Elek­tronen und Myonen zu unter­scheiden. Die Tsche­renkov-Detek­toren liefern für beide lepto­nische Kompo­nenten das gleiche Signal. Mittler­weile hat die Kolla­bo­ration aber beschlossen, ihre Detek­toren im Rahmen des Projekts „Auger Prime” aufzu­rüsten. Jede Boden­station wird dann einen zusätz­lichen Plastik­szintil­lator erhalten, der von hoch­energe­tischen Teilchen ange­regt wird und diese Energie als Licht wieder abgibt. Damit wird man zwischen Elek­tronen und Myonen unter­scheiden können, was sich letzt­lich in einer deut­lich verbes­serten Schauer­rekon­struk­tion nieder­schlägt.

Dirk Eidemüller

RK

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