Neuer CERN-Chef im Interview
Rolf-Dieter Heuer, bislang Teilchenphysik-Direktor am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg, übernimmt Anfang 2009 das Amt des CERN-Chefs in Genf.
Hamburg (dpa) - Wenn die weltgrößte Forschungsmaschine, der Teilchenbeschleuniger LHC, in diesem Herbst am europäischen Teilchenforschungszentrum CERN bei Genf in Betrieb geht, erwarten Wissenschaftler neue bahnbrechende Einsichten in die Natur der Materie und des Universums. Am 10. September 2008 sollen die ersten Atomkerne testweise in dem riesigen Ringbeschleuniger kreisen, am 21. Oktober 2008 wird die Anlage offiziell eröffnet. Der unterirdische Beschleuniger wird Atomkerne mit bislang unerreichter Wucht kollidieren lassen und soll wissenschaftliches Neuland betreten, wie der designierte deutsche CERN-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa erläutert. Heuer, bislang Teilchenphysik-Direktor am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg, übernimmt Anfang 2009 das Amt des CERN-Chefs.
Der Teilchenbeschleuniger LHC ist nach CERN-Angaben die größte Maschine, die Menschen je gebaut haben. Wozu ein derartiger Aufwand?
Heuer: «Die Teilchenphysik untersucht, was die Bausteine der Materie sind und welche Kräfte zwischen ihnen wirken. Das sind die beiden Grundfragen. Es geht also um die Faust'sche Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das erklärt dann auch alles Folgende, darauf baut das gesamte Wissen der Physik auf. Diese zwei Grundfragen versuchen wir zu beantworten.»
Und wieso benötigt man dazu so große Maschinen?
Heuer: «Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens: Wenn Sie kleine Bausteine untersuchen wollen, brauchen Sie große Geräte. Die Sonde, mit der Sie etwas untersuchen wollen, muss stets kleiner sein als die Probe. Je kleiner Ihre Sonde wird, desto höhere Energie müssen Sie aufwenden. So ist man vom Mikroskop zum Elektronenmikroskop gekommen, dann zu den kleinen Beschleunigern und schließlich zu den großen. Der zweite Grund ist Albert Einsteins berühmte Formel E=mc². E ist die Energie, die proportional ist zur Masse m multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c. Wenn Sie etwas Neues finden wollen, müssen Sie die Schwelle der Energie überschreiten, mit der Sie es erzeugen können. Und wenn ich eine große Masse erzeugen will, brauche ich eine hohe Energie. Das sind die beiden Gründe, warum die Maschinen so groß sein müssen.»
Das Bild der Natur ist doch schon ziemlich detailliert, welche entscheidenden Informationen fehlen denn noch, die Sie vom LHC erwarten?
Heuer: «Wir wissen natürlich schon sehr viel. Wir haben in den letzten Jahrzehnten unheimlich viele Fortschritte gemacht. Wir haben ein sehr gutes, sehr tiefes Verständnis der Teilchen und Kräfte, das so genannte Standardmodell der Teilchenphysik. Es hat aber eine gravierende Lücke: Ein ganz wichtiger Baustein fehlt noch, nämlich der Baustein, der Elementarteilchen ihre Masse gibt. Das ganze mathematische Gerüst dieses Modells ist aber zunächst nur gültig für masselose Teilchen. Wir wissen aber, dass die Teilchen Masse haben. Und da kommt der sogenannte Higgs-Mechanismus ins Spiel, auch ein mathematisches Modell, eingeführt vom Briten Peter Higgs und zwei Belgiern. Wenn man diesen theoretischen Mechanismus kombiniert mit dem Standardmodell, kann man erklären, wie die Elementarteilchen zu ihrer Masse kommen.»
Wie kann man sich diesen Higgs-Mechanismus vorstellen?
Heuer: «Es ist eine Art Feld, das überall existiert, und die Elementarteilchen wechselwirken mit diesem Feld. Wenn ein Teilchen stark wechselwirkt, erhält es eine große Masse, wenn es schwach wechselwirkt, erhält es eine kleine Masse. Dazu gibt es das Beispiel von den Journalisten: Wenn das kalte Buffet abgeräumt ist, sind sie gleichmäßig verteilt im Raum. Jetzt kommt von links jemand Unbekanntes herein und durchquert völlig ungehindert den Raum. Wenn dann jemand Bekanntes hereinkommt, ballen sich sofort Journalisten um diese Person. Bald lassen die ersten wieder los, die nächsten kommen hinzu - die Person wird langsamer und hat praktisch dadurch eine größere "Masse". Je bekannter eine Person ist, desto "schwerer" ist sie.»
Und der LHC wird diesen Higgs-Mechanismus bestätigen?
Heuer: «Wenn wir das Higgs-Teilchen finden - das entspricht den zusammengeballten Journalisten im obigen Beispiel - dann haben wir den Higgs- Mechanismus bestätigt, und dann können wir erklären, wie ein Teilchen zu seiner Masse kommt. Die Messungen an bisherigen Beschleunigern zusammen mit der Theorie sagen ganz klar, dass dieses Higgs-Teilchen im Energiebereich des LHC liegen muss. Wenn es der LHC nicht findet, dann hat das Standardmodell ein Problem. Mit diesem Baustein steht und fällt alles. Das ist extrem spannend. Die ersten Entdeckungen könnten aber Jahre dauern.»
Und wäre damit dann das physikalische Bild der Natur komplett?
Heuer: «Mit dem Higgs-Teilchen hätten wir das Standardmodell zwar im Wesentlichen bestätigt. Aber damit verstehen wir nur vier bis fünf Prozent dessen, was es im Universum gibt, nämlich die sichtbare Welt. Wir verstehen, wie ein Tisch, die Sterne und so weiter aufgebaut sind. Wir wissen aber, dass über 95 Prozent des Universums aus Dunkler Energie und Dunkler Materie bestehen. Die Dunkle Materie - rund ein Viertel des Universums und etwa 80 Prozent der Masse darin - verhält sich nach allen Messungen der Astrophysik wie normale Materie, nur dass wir sie nicht sehen. Wir kennen die Teilchen nicht. Die können nur ganz schwach wechselwirken, deshalb haben wir sie noch nicht gefunden.»
Kann der LHC die Dunkle Materie dingfest machen?
Heuer: «Der LHC wird ein Fenster in dieses Dunkle Universum öffnen, hoffe ich. Das finde ich faszinierend. Die Möglichkeit, den ersten Schritt in das Dunkle Universum zu gehen, finde ich ganz fantastisch. Das ist natürlich nicht garantiert, aber die Wahrscheinlichkeit, Kandidaten für die Dunkle Materie zu finden, ist relativ groß.»
Wie viel Zeit haben Sie dazu?
Heuer: «Der LHC-Vorgänger am CERN, LEP, ist 12 Jahre gelaufen. Ich gehe von mindestens 15 Jahren beim LHC aus. Das ist wirklich das mindeste, das er laufen sollte. Fragen dafür gibt es genug. Ich glaube, wir sind jetzt gerade in einer wissenschaftlich spannenden Phase, wo Teilchenphysik, Astrophysik, Kosmologie und nicht zu vergessen auch Philosophie zusammenkommen, weil wir uns mit dem, was wir untersuchen, immer näher an den Urknall heranbewegen und diese Fragen da sehr stark verkoppelt sind.»
Interview: Till Mundzeck, dpa