Neues Modell zur Phasentrennung
Bereits kleine Ungleichgewichte in der Anzahl verschiedener Moleküle haben eine unerwartete Wirkung.
Das erste Leben auf der Erde entwickelte sich wahrscheinlich aus Protozellen – flüssigen Gemischen, die aus vielen Sorten von Molekülen bestehen. Forschende der Universität Göttingen zeigen nun, dass in solchen Gemischen bereits kleine Ungleichgewichte in der Anzahl verschiedener Moleküle eine unerwartete Wirkung haben. Dabei verstärken komplexe Wechselwirkungen zwischen den Molekülen solche Ungleichgewichte deutlich. So kann sich eine Molekülsorte, die nur geringfügig in der Mehrheit ist, fast vollständig von den anderen trennen.
Die Erkenntnisse deuten auf einen bisher unbekannten Mechanismus hin, der auf viele Gemische zutreffen kann. So könnte zum Beispiel die Bildung von Strukturen in Zellen gesteuert werden, indem die Konzentrationen unterschiedlicher Moleküle fein abgestimmt werden.
In den ersten lebenden Zellen bildeten sich Strukturen, indem sich Flüssigkeiten trennten und in abgegrenzten Bereichen ansammelten. So wie sich in einer Vinaigrette Öl und Essig in Tröpfchen auftrennen, wenn man das Dressing nach dem Umrühren stehen lässt, entstanden in den Zellen durch die Phasentrennung voneinander getrennte Strukturen. Diese entwickelten sich weiter zu den membranlosen Organellen der heute lebenden Zellen. Die Forschenden untersuchten die Wechselwirkungen zwischen den vielen unterschiedlichen Molekülen in einem flüssigen Gemisch mit einem mathematischen Modell. Dieses enthält Informationen über die Zusammensetzung.
Mithilfe der Gesetze der Thermodynamik stellten sie fest, ob im Gemisch eine Phasentrennung erfolgte und welche Strukturen sich dabei bildeten. Wegen der Komplexität des Problems konnten bislang nur Gemische untersucht werden, in denen alle Molekülsorten in gleicher Anzahl vorkommen. Nun entwickelten die Forschenden eine raffiniertere Methode und entdeckten, dass kleine Abweichungen von einer gleichgewichtigen Zusammensetzung infolge thermodynamischer Instabilitäten eine große Wirkung haben können. So kann ein geringes Ungleichgewicht dazu führen, dass eine nur geringe Mehrheit von Molekülen einer Sorte die Bildung neuer Phasen im Gemisch auslöst.
„Es ist überraschend, dass sehr kleine Ungleichgewichte in der Zusammensetzung enorm verstärkt werden können. Bei einfachen Wechselwirkungen, die systematisch von Eigenschaften wie Molekülgröße oder Polarität abhängen, würden sich neue Phasen mit ähnlicher Zusammensetzung bilden, weil diese am wahrscheinlichsten sind, also thermodynamisch gesprochen die Entropie maximieren. Aber hier kann ein Molekül, selbst wenn es nur zu zwei Prozent in einem Gemisch aus hundert verschiedenen Molekülsorten enthalten ist, in einer Konzentration von siebzig Prozent in einem Tröpfchen vorhanden sein, das sich trennt“, erklärt Filipe Thewes, Doktorand am Institut für Theoretische Physik.
Diese Verstärkung könnte der Mechanismus sein, der in Zellen die Phasentrennung und damit die Bildung neuer Strukturen reguliert. Studienleiter Peter Sollich ergänzt: „Unser mathematischer Ansatz ist auf viele Situationen übertragbar. Daher haben die Ergebnisse auch spannendes Potenzial für die Anwendung in ähnlichen Modellen. Der Mechanismus kann in vielfältigen Bereichen zum Tragen kommen – von lebenden Zellen bis hin zu Marktwirtschaften oder ökologischen Netzwerken mit vielen Arten.“
U. Göttingen / JOL