07.01.2022

Neuronen mit Rhythmusgefühl

Interneuronen können zu überraschend schnellen Oszillationen umschalten.

Das menschliche Gehirn ist extrem dynamisch. Die Verbindungen zwischen Nervenzellen ändern sich, wenn wir etwas lernen oder vergessen. Die Rechen­prozesse im Gehirn ändern sich sogar noch schneller als seine Struktur: In Sekundenbruchteilen können wir uns auf einen neuen Reiz fokussieren, und plötzlich nehmen wir den Kaffeeduft wahr, der schon lange unbemerkt in der Luft lag. Ein trans­disziplinäres Forschungsteam am Göttingen Campus hat nun experimentelle und mathematische Ansätze verbunden und so einen neuen Blickwinkel auf solche schnellen Schaltvorgänge im Gehirn gefunden.

Abb.: Die beiden untersuchten Zelltypen sind hier farbstoff­markiert im Kortex...
Abb.: Die beiden untersuchten Zelltypen sind hier farbstoff­markiert im Kortex einer Maus (rot: schnell feuernde, grün: adaptierende Interneuronen). (Bild: J. Staiger, Uni.-Med. Göttingen)

Die Wissenschaftler am Göttingen Campus-Institut für Dynamik biologischer Netzwerke (CIDBN) sind den zellulären Mechanismen hinter diesen Vorgängen auf den Grund gegangen. Zellen, die an Gehirn­funktionen wie der Verarbeitung von Sinnes­eindrücken, aber auch an der Verfestigung des Gedächtnisses beteiligt sind, weisen eine kollektive rhythmische Aktivität auf. „Normalerweise werden Nerven­zellen mit eher unnatürlichen Reizen wie kurzen Impulsen oder Schwingungen untersucht“, erklärt Andreas Neef, Leiter des Labors für Neurophysik am CIDBN. „Wir wollten die Zellen aber mit natürlicheren, zufällig schwankenden Reizen untersuchen.“

Frühere Zellcharakterisierungen mit herkömmlichen Methoden schienen ein einfaches Bild zu zeichnen: Einige Nervenzelltypen sind darauf spezialisiert, an schnellen Aktivitätsrhythmen teilzunehmen, während ein anderer Zelltyp – die adaptierenden Inter­neuronen – hauptsächlich an langsamen Rhythmen beteiligt ist. Als das Göttinger Team die Reaktionen der Nervenzellen auf die neuen, natürlicheren Reize analysierte, zeigte sich dagegen ein ganz anderes Bild. Die adaptierenden Inter­neuronen folgten nicht den erwarteten, langsamen Hirn­rhythmen, sondern waren in der Lage, zwischen sehr langsamen und sehr schnellen Rhythmen zu wechseln.

Während bestimmter Schlafphasen oder beim inaktiven Tagträumen können die adaptiven Interneuronen nach den neuen Erkenntnissen zu Hirnrhythmen von bis zu 200 Zyklen pro Sekunde beitragen. Das ist mehr als zwanzig Mal schneller, als man es für diese Zellen für möglich hielt. „Wir waren überrascht, wie flexibel diese Zellen reagieren können“, sagt Erstautor Ricardo Martins Merino. „Aber was mich noch mehr erstaunt, ist die Geschwindigkeit, mit der sie sich neu einstellen. In einem Moment tragen sie zu den schnellen Oszillationen bei, im nächsten schon nicht mehr. Sie können zehn Mal pro Sekunde hin- und herwechseln!“

Die Wissenschaftler nehmen an, dass diese Fähigkeit zum schnellen Umschalten der lange gesuchte Mechanismus hinter der rätselhaften Interaktion verschiedener Rhythmen im Gehirn ist, und damit die Basis für das schnelle Umschalten zwischen Reizen. „Das nächste Ziel ist es, die Rolle der flexibel agierenden Zellen sowohl im Computer, als auch im lebenden Gehirn zu untersuchen. Dafür bietet das CIDBN ideale Bedingungen, weil wir theoretische und experimentelle Forschungsansätze unter unserem Dach kombinieren“, so Co-Autor Fred Wolf, Gründungsdirektor des CIDBN.

Die Studie entstand im Rahmen des transkontinentalen Forschungsnetzwerks NeuroNex Working Memory und wurde von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft gefördert. Daran beteiligt waren Wissenschaftler der Universität und der Universitäts­medizin Göttingen sowie der Max-Planck-Institute für Experimentelle Medizin und für Dynamik und Selbst­organisation in Göttingen.

U. Göttingen / DE

 

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