Neutrinos auf der Waage
Am 14. Oktober durchflogen erstmals Elektronen das Experiment KATRIN am Karlsruher Institut für Technologie.
Neutrinos durchdringen uns jede Sekunde milliardenfach, ohne dass wir das Geringste davon bemerken würden. Lange Zeit galten die mysteriösen Teilchen daher als masselos. Seit dem Nachweis von Neutrino-Oszillationen, der im vergangenen Jahr mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ist aber klar, dass Neutrinos eine geringe Masse besitzen müssen. Doch wie groß sie genau ist, weiß man nicht. Diese Frage soll das Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment (KATRIN) beantworten, das Mitte Oktober einen wichtigen Test bestanden hat: Die ersten Elektronen durchflogen die mehr als 70 Meter lange Anlage.
KATRIN soll es erlauben, die Masse des Neutrinos modellunabhängig mit Hilfe des Betazerfalls von Tritium um mindestens eine Größenordnung genauer als bisherige Experimente zu bestimmen. Beim Zerfall des schweren Wasserstoff-Isotops Tritium entstehen Elektronen und Neutrinos, die sich die freigesetzte Energie von 18,6 keV teilen. Der Einfluss des Neutrinos zeigt sich im Energiespektrum der Elektronen am stärksten in der Nähe der Maximalenergie des Beta-Zerfalls. Daher gilt es, die Elektronenenergie dort präzise zu bestimmen. Dies geschieht im 24 Meter langen Hauptspektrometer.
Bereits im Jahr 2001 gab es den Startschuss zu dem Experiment, das seit 2005 am Karlsruher Institut für Technologie für rund 60 Millionen Euro aufgebaut wurde. Die Kollaboration besteht aus rund 150 Wissenschaftlern aus sechs Ländern. „Oft werde ich gefragt, wieso wir eine so große Anlage und so viele Wissenschaftler brauchen, nur um eine Zahl zu bestimmen“, sagte KATRIN-Projektleiter Guido Drexlin bei der Veranstaltung anlässlich des „First Light“. „Aber es ist die Natur des Menschen, solche Rätsel lösen zu wollen.“
Mit einem Knopfdruck starteten KIT-Vizepräsident Oliver Kraft, KATRIN-Co-Sprecher Guido Drexlin, KIT-Bereichsleiter für Physik und Mathematik, Johannes Blümer, Ernst Otten von der Universität Mainz und Hamish Robertson von der University of Washington in Seattle die Anlage KATRIN. (Bild: Patrick Langer / KIT)
Der Bau hat so lange gedauert, weil die Wissenschaftler und Techniker viele Herausforderungen in puncto Cryo-, Vakuum- und Hochspannungstechnik, Supraleitung, Prozessautomatisierung oder auch Elektronik meistern mussten. So ist es beispielsweise erforderlich, die Hochspannung von 18.600 Volt auf nur 0,06 Volt stabil zu halten. Zudem entspricht das Vakuum in der Anlage dem Wert auf der Mondoberfläche. „In dem Behälter befindet sich das größte Nichts auf dem Planeten“, erklärte KIT-Vizepräsident Oliver Kraft. Auch die Herstellung der Tritiumquelle dauerte zehn Jahre.
Mit den ersten Elektronen in der Anlage hat KATRIN nun einen wichtigen Meilenstein geschafft. Noch ist eine schaltbare Elektronenquelle im Einsatz, die mittels einer UV-Lichtquelle geeignete Elektronen aus einer goldbeschichteten Edelstahlplatte herausschlägt. Als nächstes müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Anlage genau verstehen lernen. „Wir wissen jetzt, dass wir die Elektronen 70 Meter lang durch die Anlage transportieren können. Aber das sagt noch nichts darüber aus, welche Erfahrungen und Erlebnisse sie haben, wenn sie unser Experiment durchlaufen“, erläuterte Kathrin Valerius, die am KIT eine Helmholtz-Nachwuchsgruppe zur Analyse der experimentellen Daten von KATRIN leitet. Nun gilt es, die Energieverluste beim Transport genau zu charakterisieren, um diese Ergebnisse in die späteren Analysen einfließen lassen zu können.
Die ersten Messungen mit Tritium sind für Herbst 2017 geplant. Die volle Sensitivität wird KATRIN etwa fünf Jahre danach erreichen und dann genauere Aussagen über die Masse der Neutrinos erlauben. „Die Zahl, die hier gemessen wird, wird später in jedem Lehrbuch stehen“, freute sich Johannes Blümer, der am KIT den Bereich Physik und Mathematik leitet. Neben der Frage nach der Neutrinomasse soll KATRIN auch klären, ob es so genannte sterile Neutrinos gibt, also mögliche Kandidaten für die Dunkle Materie. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Karlsruhe sind auf unerwartete Ergebnisse gefasst, wie Kathrin Valerius verdeutlichte: „In den letzten Jahrzehnten haben uns Neutrinos immer wieder überrascht, wieso sollte es dieses Mal anders sein?“
Maike Pfalz