Neutrinos und der Ursprung der Materie
Nach jahrzehntelanger Forschung bergen Neutrinos noch zahlreiche Rätsel. Physik in unserer Zeit widmet den „Geisterteilchen“ ihre aktuelle Titelgeschichte
Neutrinos spielen eine Sonderrolle unter den Elementarteilchen: Ihre Massen sind extrem klein, mindestens eine Million mal kleiner als die des Elektrons, und auch die Kräfte zwischen Neutrinos und anderen Teilchen sind sehr gering. Neutrinos spüren nur die schwache Kraft und die Gravitation, nicht dagegen die elektromagnetische und die starke Kraft, die Protonen und Neutronen zu Atomkernen bindet. Sie sind deshalb fast unsichtbare Teilchen, und als solche wurde ihre Existenz 1930 von Wolfgang Pauli postuliert. Ihre Funktion bestand darin, Eigenschaften des Betazerfalls von Atomkernen mit dem Satz von der Erhaltung der Energie in Übereinstimmung zu bringen.
Da Neutrinos nur an der schwachen Wechselwirkung teilnehmen, können sie große Ansammlungen von Materie ohne nennenswerte Absorption durchdringen. Dies macht ihren Nachweis sehr schwierig, führt aber auch dazu, dass ein starker Neutrinofluss aus dem Zentrum der Sonne auf die Erde trifft: 60 Milliarden Neutrinos pro Quadratzentimeter und Sekunde. Mit dem Nachweis dieser solaren Neutrinos durch Ray Davies 1968 nahm das bis heute sehr fruchtbare Forschungsgebiet der Neutrino-Oszillationen sein Anfang, das Kai Zuber in diesem Heft auf S. 18 ausführlich beschreibt.
Wie wir heute wissen, ist das beobachtete Defizit im Fluss der solaren Neutrinos auf die partielle Umwandlung von Elektron-Neutrinos in Myon- und Tau-Neutrinos auf ihrem Weg von der Sonne zur Erde zurückzuführen. Aus einer Serie von Oszillationsexperimenten mit Neutrinos aus der kosmischen Strahlung, aus Kernreaktoren und von Beschleunigern haben wir in den vergangenen 45 Jahren gelernt, dass die drei Neutrinos des Standardmodells der Teilchenphysik Masse besitzen. Bisher konnten zwei Differenzen der Quadrate von Neutrinomassen bestimmt werden. Die individuellen Massen sind hingegen noch immer unbekannt. Aus kosmologischen Beobachtungen folgt lediglich, dass sie kleiner als 0,3 eV sind. Was ist der Ursprung dieser äußerst geringen Neutrinomassen?
Das Innere des Daya-Bay-Neutrinodetektors. Diese in China arbeitende Anlage misst Oszillationen von Anti-Neutrinos, die aus dem Innern von nahe gelegenen Kernreaktoren stammen (Foto: LBNL).
Da Neutrinos keine Ladungen besitzen, sondern neutral sind, können sie mit anderen schweren Majorana-Neutrinos mischen. Das sind hypothetische neutrale Teilchen, die ihre eigenen Antiteilchen sind. Die Massen dieser Majorana-Neutrinos sind unabhängig vom Higgs-Mechanismus, der die Erzeugung der Massen im Standardmodell beschreibt. Sie können deshalb sehr viel schwerer sein als die uns bekannten Elementarteilchen. Im Rahmen einer vereinheitlichten Theorie der starken, schwachen und elektromagnetischen Wechselwirkungen findet man, dass die Massen und Mischungen der schweren Majorana-Neutrinos auf natürliche Weise die sehr kleinen Massen der uns bekannten leichten Neutrinos erklären können.
Die schweren Majorana-Neutrinos lassen sich wegen ihrer großen Massen in Beschleunigerexperimenten nicht erzeugen. In der heißen Frühphase des Universums, bei entsprechend hohen Temperaturen, waren sie jedoch in großer Anzahl vorhanden. Theoretische Untersuchen haben gezeigt, dass durch ihre Wechselwirkungen mit den Teilchen des Standardmodells und durch die Expansion des Universums ein symmetrischer Zustand mit gleichen Anteilen von Materie und Antimaterie in einen asymmetrischen Zustand übergeht. Im weitern Verlauf der kosmischen Evolution vernichten sich die gleichen Anteile von Materie und Antimaterie, und nur eine kleine Asymmetrie bleibt als heute beobachtbare Materie über.
Dieser 1986 von Masataka Fukugita und Tsutomu Yanagida vorgeschlagene Mechanismus der Leptogenese verknüpft auf elegante Weise die Häufigkeit der heute beobachteten Materie mit Neutrinoeigenschaften. Wie kann man den möglichen Zusammenhang zwischen Materie-Antimaterie-Asymmetrie und Neutrinoeigenschaften weiter experimentell überprüfen?
Von entscheidender Bedeutung wird die Bestimmung der absoluten Neutrinomassen sein. Die Leptogenese favorisiert Massen im Bereich von zehn Millielektronvolt. Zukünftige Resultate von Betazerfalls-Experimenten und kosmologischen Beobachtungen werden hier neue wichtige Erkennntisse liefern.
Wilfried Buchmüller, DESY
Die aktuelle Ausgabe von Physik in unserer Zeit widmet ihr Titelthema den Neutrinos. Dieses Editorial von Wilfried Buchmüller, der im Grenzbereich von Teilchenphysik und Kosmologie forscht, kommentiert einen Übersichtsartikel, der die bisherigen Erkenntisse zu Neutrinos zusammenfasst. Darin konzentriert sich Kai Zuber von der Universität Dresden auf das Phänomen der Neutrino-Oszillationen. Seinen vollständigen Beitrag finden Sie hier zum freien Download.