Neutronen in der Falle
Neuartige Falle erlaubt präzise Bestimmung der Neutronen-Lebensdauer.
Es ist eines der merkwürdigen, ungelösten Rätsel in der Elementarteilchen-Metrologie: Die Lebensdauer freier Neutronen ist endlich. Doch je nachdem, wie man sie bestimmt, kommen dabei unterschiedliche Werte heraus. Und obwohl die verschiedenen Messmethoden in sich konsistent und inzwischen auch sehr präzise sind und Genauigkeiten von unter einer Sekunde aufweisen, ist es bislang schleierhaft, warum die unterschiedlichen Verfahren um rund vier Sigma voneinander abweichen. Schon seit Jahren arbeiten verschiedene Forschergruppen weltweit daran, diesem Rätsel um die Neutronen-Lebensdauer sowohl experimentell als auch theoretisch auf die Spur zu kommen. Denn die genaue Kenntnis der Lebensdauer des Neutrons ist nicht nur für die Kern- und Teilchenphysik von Bedeutung, sondern auch für kosmologische Modelle.
Abb.: Beamline und Neutronen-Falle am Los Alamos Neutron Science Center. (Bild: R. W. Pattie Jr. et al.)
Ein internationales Forscherteam hat nun am Los Alamos National Laboratory ein hochpräzises Experiment durchgeführt, bei dem die Wissenschaftler bislang unerreichte Kontrolle über die Neutronenzustände gewinnen konnten. Dabei nutzten sie ein neues Verfahren zur Messung der Neutronen-Lebensdauer – was die Hoffnung aufkommen lässt, die bislang schwer zugänglichen systematischen Fehler bei dieser fundamentalen Bestimmung aufspüren und das Rätsel um die Neutronen-Lebensdauer lösen zu können.
Freie Neutronen sind nicht stabil und zerfallen über die schwache Wechselwirkung mit einer mittleren Lebensdauer von rund 880 Sekunden in je ein Proton, Elektron und Antineutrino. Das entspricht einer Halbwertszeit von 661 Sekunden. Die genaue Bestimmung dieses semileptonischen Zerfalls gestaltet sich allerdings schwierig. Bisherige Experimente haben sich entweder magnetisch eingeschlossener Neutronen („bottle“) oder eines Neutronenstrahls („beam“) bedient. Bei den Strahlexperimenten fliegen kalte Neutronen durch eine Penning-artige Protonenfalle. Je nachdem, wie viele Protonen als Zerfallsprodukt sich darin zählen lassen, ergibt sich die Lebensdauer der hindurchfliegenden Neutronen. Obwohl dieser Aufbau im Prinzip konzeptionell einfach ist, hängt die Analyse unter anderem stark von einer exakten Kenntnis der durchfliegenden Neutronen ab, was nicht einfach zu bewerkstelligen ist. Diese Messungen liefern eine mittlere Neutronen-Lebensdauer von 887,7±2,2 Sekunden.
Ein wenig präzisere Daten liefern die Experimente mit ultrakalten Neutronen, die über Stoßprozesse über mehrere Größenordnungen weiter abgekühlt werden. Bei kinetischen Energien im Nanoelektronenvolt-Bereich bewegen sich diese Neutronen nur noch wenige Meter pro Sekunde. Dadurch lassen sie sich in magnetischen Fallen einschließen und man kann die Anzahl der Neutronen nach einer bestimmten Zeit messen. Aus solchen Experimenten ergibt sich eine Lebensdauer von 878,5±0,8 Sekunden. Allerdings spielen hier Neutronen-Verluste eine wichtige Rolle, deren Korrektur ebenfalls systematische Fehler beinhalten können. Besonders schwierig gestaltet sich das Verständnis der Entwicklung im Phasenraum der Neutronenzustände während der Speicherung und Entladung der Neutronen. So könnte ein relevanter Teil der Neutronen Energien annehmen, die es ihnen erlauben, der Falle unbemerkt zu entwischen.
Um diese Probleme zu adressieren, entwickelten die Forscher vom Los Alamos Neutron Science Center eine neuartige, kombinierte magnetisch-gravitative Neutronenfalle, die aus einem semitoroidalen Trichter bestand. Die Kombination aus magnetischer und gravitativer Falle ist deshalb möglich, weil derart kalte Neutronen ähnlich stark auf diese Kräfte reagieren. Eine Besonderheit bestand auch darin, dass die Falle asymmetrisch war, um quasi-chaotische Neutronenorbits zu erzeugen. Dadurch mischen sich die Zustände im Phasenraum sehr viel schneller und effektiver. Diejenigen Neutronen, die unpassende Energieniveaus aufweisen, ließen sich so schon vor der eigentlichen Speicherphase entfernen, was eine wichtige systematische Unsicherheit zu minimieren hilft.
Außerdem gelang es den Wissenschaftlern, einen Neutronendetektor in die Falle zu integrieren. Dieser bestand aus einer Neutronen absorbierenden Schicht aus einem ZnS:Ag-Szintillator, der über Photomultiplier ausgelesen wurde und einen Zeitstempel mit einer Präzision von 800 Pikosekunden lieferte. In der Falle befanden sich zu Messbeginn typischerweise 25.000 Neutronen, deren Abnahme in der Zahl die Forscher dann über verschieden lange Speicherdauern bestimmen konnten. Dabei ergab sich eine Neutronen-Lebensdauer von 877,7±0,7 (stat) +0,4/–0,2 (sys) Sekunden. Drei verschiedene, blind voneinander durchgeführte Versuchsreihen stimmten zu 0,2 Sekunden überein. Dank all der experimentellen Verbesserungen konnten die Forscher nicht nur eine sehr präzise Bestimmung der Neutronen-Lebensdauer liefern. Mit ein wenig Feintuning sollten sogar Genauigkeiten im Bereich von weniger als einer halben Sekunde möglich sein.
Diese Neubestimmung der Neutronen-Lebensdauer stimmt mit anderen Speicherexperimenten überein und wirft die Frage auf, ob entweder auch bei diesem Experiment noch unverstandene systematische Fehlerquellen auftreten oder ob andererseits die Neutronenstrahl-Experimente noch wichtige Punkte außen vor lassen. Man darf gespannt bleiben, ob andere Strahl- und Fallen-Experimente sich diesen Werten annähern – oder welche Fehlerquellen es noch auszuräumen gilt, bevor für die Neutronen-Lebensdauer ein einheitlicher Literaturwert feststeht.
Dirk Eidemüller
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