29.05.2015

Nicht nur ein Krieg der Chemiker

Der Chemiker Fritz Haber gilt als Vater des Gaskriegs. Doch auch Physiker engagierten sich im Ersten Weltkrieg. 

Der Erste Weltkrieg wird oft als „Krieg der Chemiker“ bezeichnet, wobei insbesondere Fritz Haber als Symbol für den ambivalenten Gebrauch der Wissenschaft steht. Aber auch Physiker waren an Kriegsentwicklungen beteiligt. Damit stellt sich die Frage, wie sehr die Kriegserfahrung nicht nur die Chemie, sondern gerade auch die Physik als Wissenschaft verändert oder in ihrer Organisation sogar modernisiert hat.

Fritz Haber (2. v. l.) bei der Vorbereitung von mit Kampfstoffen befüllten Artilleriegranaten (ca. 1917, Foto: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft).

Die Kriegsbegeisterung in Deutschland kannte keine Grenzen. Im August 1914 waren sie alle gleich in ihrem Patriotismus – ob Handwerksgeselle, Industriearbeiter oder studierter Gelehrter. Sie fanden sich vereint im Schützengraben. Und die, die dafür zu alt oder ungeeignet waren, kämpften an der Heimatfront mit Worten. Im Namen von Walter Nernst, Max Planck, Wilhelm Wien, Wilhelm Röntgen und 89 anderen deutschen Professoren der Naturwissenschaften, Geisteswissenschaft und Künste wurde die Einheit von deutschem Heer und deutschem Volk beschworen. So sprachen sie sich uneingeschränkt für den Krieg aus. Nur Einstein – geschützt durch seine Schweizer Nationalität – entzog sich dieser Euphorie. Das hinderte ihn aber nicht daran, mit Kreiselkompass und Tragflügeltheorie kriegsrelevante Physik beizusteuern. Selbst die wenigen Frauen in der Wissenschaft wie Lise Meitner, die nach Marie Curies Vorbild als Röntgenschwester hinter der Front half, standen nicht abseits; sie hatte sogar Otto Hahn herzlich zum erfolgreichen Gaseinsatz in Ypern gratuliert.

Im Schützengraben des Stellungskriegs wurde schnell klar, dass Taktik und Technologie wichtiger als Tapferkeit waren. In den Erinnerungen der Front-Physiker finden sich viele Schilderungen der gleichen Art: Der gestoppte Vormarsch zwang die Rekruten in die Deckung und zum Nachdenken. War es nicht schlauer, einen Spiegel aus der Deckung zu halten als den eigenen Kopf? Das fragte sich etwa Richard Courant. Er entwickelte auch eine Methode der Erdtelegraphie, welche die elektrische Leitfähigkeit des Erdbodens zur Übertragung nutzte. Karl Fredenhagen wurde von seinem Kommandeur im März 1915 mitten im Granathagel hocherfreut angetroffen. Zur Rede gestellt, sagte er, er hätte gerade eine „wichtige Erfindung“ gemacht, nämlich wie sich der Standort eines feindlichen Geschützes physikalisch ermitteln ließe. Diese „Erfindung“ hatte auch Rudolf Ladenburg gemacht. Er überzeugte die Militärs, dazu eine Forschungsabteilung in Berlin einzurichten, in der schließlich eine Reihe späterer Atomphysiker, etwa Max Born, arbeiteten. Aber was machten die Gegner?

Im Falle der Physiker und Chemiker waren das natürlich die Kollegen, mit denen man wie auf den berühmten Solvay-Kongressen gerade noch kooperiert und die Internationalität der Wissenschaft zelebriert hatte. Im Grunde machten sie genau das Gleiche! Beim Installieren der Erdtelegraphie fing Courant Signale auf, die nur vom Gegner kommen konnten. Max Born verglich nach dem Krieg seine Berechnungen mit ähnlichen von Lawrence Bragg. Wie beim Gas der Chemiker gab es also einen intensiven Krieg der Physiker. Auch dieser war ein Wettbewerb: Wer hatte die bessere Schallortung? Wer konnte die Flugbahnen für steile Winkel und bewegte Ziele, etwa Flugzeuge, genau genug berechnen? Aber auch: Welche Nation schaffte es am besten, ihre Wissenschaft zu organisieren, Forscher und Ressourcen optimal zu verwenden?

Einen überzeugenden Nachweis, wer diesen Wissenschaftswettbewerb gewann, oder ob gar eine schlechtere Mobilisierung von Wissenschaftlern in Deutschland Grund für den verlorenen Krieg war, gibt es nicht. Klar ist, dass weder bei Ballistik, Schallortung noch Giftgas eine Seite wirklich kriegsentscheidende Vorteile realisieren konnte. Eher war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen. So paradox es ist, so hat auf diese Weise der Krieg die Wissenschaft und ihre Organisation wohl insgesamt stärker und nachhaltiger beeinflusst als umgekehrt.

Eine Variable der Kriegsbilanz dürfen wir aber nicht vergessen: Etwa jeder Fünfte des wissenschaftlichen Nachwuchses fand im Krieg den Tod. Und damit wohl auch ein Fünftel der neuen physikalischen Ideen. Dass dies indes auf allen Seiten der Fall war, ist freilich kein Trost, sondern ein nicht allein wissenschaftliches Desaster.

Arne Schirrmacher, Humboldt Universität zu Berlin

Dieses Editorial kommentiert den Artikel "Fritz Haber und der Krieg der Chemiker” von Bretislav Friedrich, erschienen in der aktuellen Ausgabe von Physik in unserer Zeit. Diesen Artikel finden Sie hier zum Download (nur frei für Online-Abonnenten).

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