Nukleonen im Paartanz
Jahresrückblick Kern-, Teilchen- und Astroteilchenphysik 2019.
Ein ungewöhnlich energiereiches Neutrino aus den Tiefen des Alls könnte den Weg zum Verständnis der Entwicklung von aktiven Galaxienkernen weisen. Das vom IceCube-Neutrinoobservatorium am Südpol entdeckte Teilchen stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer 3,8 Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie. Wie Aufnahmen im Radiobereich zeigen, liegt der Ursprung des hochenergetischen Neutrinos wohl in der Kollision zweier gigantischer Jets, die durch zwei supermassereiche schwarze Löcher im Zentrum dieser Galaxie verursacht wird. Auch die Erforschung der Eigenschaften dieser extrem leichten Teilchen selbst schreitet voran: So ist die Ruhemasse von Neutrinos zwar noch nicht genau bekannt, doch konnte die Katrin-Kollaboration nun erste Ergebnisse vorlegen und die Neutrinomasse auf einen Wert von weniger als ein Elektronenvolt eingrenzen.
Neutronensterne im Labor
Heftige Reaktionen in den kosmischen Weiten lassen sich zumindest zum Teil auch im Labor nachvollziehen. Am Hades-Experiment bei der GSI gelang es einer internationalen Forschergruppe, die Bedingungen bei der Kollision von Neutronensternen nachzustellen und die dabei entstehende Schwarzkörperstrahlung zu messen. Sie beträgt beeindruckende achthundert Milliarden Kelvin. Ebenfalls an einem Speicherring der GSI konnte ein anderes Team den Protoneneinfang in astrophysikalischen Szenarien genauer bestimmen. Dieser geschieht vor allem im Bereich des Gamow-Fensters und ist entscheidend für das Verständnis der Elemententstehung im Weltall.
Denn der Ursprung der schweren Elemente war bis vor wenigen Jahren noch durchaus umstritten. Wie sich anhand astrophysikalischer Beobachtungen aber immer stärker herauskristallisiert, sind für die sehr schweren Elemente wohl vor allem Neutronenstern-Kollisionen verantwortlich. Die dabei in Unmengen freiwerdenden Neutronen können über den r-Prozess große Mengen neuer Elemente erbrüten. Hochdichte Kernmaterie lässt sich aber nicht nur bei Kollisionsexperimenten erzeugen, sondern auch dadurch, dass man etwa ein Neutron im Atomkern durch ein Kaon austauscht. Ein solcher exotischer Atomkern ist sogar überraschend stabil und könnte zu verstehen helfen, wie Neutronensterne aufgebaut sind.
Auch dieses Jahr gab es Tests des Standardmodells der Elementarteilchen. Ein wichtiger solcher Test war die Messung des symmetrieverletzenden Charakters von Charm-Quarks. Erstmals gelang es der LHCb-Kollaboration, die Verletzung der CP-Symmetrie durch Charm-Quarks zu bestimmen. Sie liegt am oberen Ende dessen, was mit dem Standardmodell verträglich ist. Da dürfte in Zukunft interessante weitere Studien nach sich ziehen, da verschiedene Modelle hier starke Effekte von Teilchen jenseits des Standardmodells vorhersagen. Die direkte Suche nach dunkler Materie erweist sich schließlich weiter als erfolglos. Messungen der Casper-Kollaboration mit einer Kernspintechnik haben ergeben, dass in einem großen Parameterbereich keine Wechselwirkungen zwischen Axionen und gewöhnlicher Materie zu sehen sind.
Tanzende Nukleonen und vielgestaltige Atomkerne
Protonen und Neutronen verhalten sich im Atomkern nicht immer wie erwartet. So zeigen Nukleonen im Atomkern gemäß dem EMC-Effekt andere Eigenschaften als ungebunden. Offenbar bewegen sich hier Protonen und Neutronen im Paartanz. Das widerspricht der altbekannten Annahme, dass Nukleonen sich im Atomkern wie individuelle Teilchen verhalten. Stattdessen wird offenbar die Skalentrennung bei Quark- und Nukleon-Wechselwirkungen gebrochen. Auch die Form und Größe von Atomkernen lässt sich von Seiten der Theorie nicht immer klar vorhersagen. Dabei werden die Kerne mit zunehmender Masse nicht einfach größer, sondern variieren ihre Dimensionen in einer komplexen Weise. So überraschte die Messung der Größe von Kalzium-Kernen, die einen deutlich kleineren Wert ergab als angenommen. Auch Messungen an verschiedenen Bor-Kernen lieferten etwas andere Werte als von der Theorie erwartet.
Die Form von Atomkernen ist nicht immer kugelrund, sollte aber zumindest in der Nähe abgeschlossener Kernschalen doch kugelförmig sein. Wie Messungen am Quadrupolmoment von Kadmiumkernen nun belegten, ist aber auch das nicht immer der Fall. Vielleicht muss sogar die Standardtheorie der Kernschalen modifiziert werden, weil auch hier Paareffekte für das eigenartige Verhalten verantwortlich sind. Aber auch die Kernoberfläche kann einen überraschend starken Einfluss auf die Größe von Atomkernen aufweisen. Wie laserspektroskopische Messungen der Atomkerngröße jenseits von Zinn-132 zeigen, steigt der Kernradius bei Isotopen, die schwerer sind als dieser doppelt magische Atomkern, auf einmal plötzlich an. Das sehr neutronenreiche Nickel-78 mit 28 Protonen und 50 Neutronen ist ebenfalls ein doppelt magisches Isotop, wie seine sphärische Form auch belegt. Vermutlich ist es sogar der leichteste magische Kern mit fünfzig Neutronen, denn bislang war unklar, ob diese magische Zahl in extrem neutronenreichen Kernen erhalten bleibt.
Manchmal liefern Experimente Ergebnisse, für deren Ermittlung sie gar nicht gedacht waren. Der Xenon1T-Detektor soll tief unter der Erde Teilchen der dunklen Materie aufspüren. Nun ließ sich dank der hervorragenden Abschirmung dieses Experiments aber ein äußerst seltener Vorgang bestimmen: der Zerfall des Radionuklids Xenon-124. Mit einer Halbwertszeit von 1,8 × 1022 Jahren – rund eine Billion Mal länger als das Alter des Universums – ist dieser Zerfall der seltenste je direkt in einem Labor beobachtete Prozess. Noch sehr viel langsamer müsste der neutrinolose doppelte Betazerfall sein. Mehr als das Zehnbilliardenfache des Alters unseres Universums müsste seine Halbwertszeit betragen, wie die Gerda-Kollaboration ebenfalls bei Messungen im Untergrundlabor von Gran Sasso herausgefunden hat.
Im Gegensatz zu diesen extrem seltenen und langsamen Prozessen soll eine Kernuhr sehr schnell und damit auch genau ticken. Damit könnten sie die Atomuhr als präzisesten Zeitnehmer ablösen. Nach langen Vorbereitungen ließ sich nun die Energie beim Zerfall eines angeregten Thorium-229-Kerns bestimmen, was einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Kernuhr darstellt. Aber nicht nur bei der künftigen Zeitmessung, sondern auch bei der Datierung lange zurückliegender Ereignisse spielt Thorium eine Rolle. Mit Hilfe der neuartigen Uran-Thorium-Helium-Datierung konnten Forscher alte Asteroidenfragmente im Meeresboden zuordnen. Vor langer Zeit schlug ein Asteroid oder Komet in Nordost-Amerika ein und hinterließ in der Chesapeake Bay den größten Krater in den Vereinigten Staaten, was sich dank der neuen Methode in einem zeitlichen Rahmen vor rund 35 Millionen Jahren datieren ließ.
Dirk Eidemüller