Perfekte Mikroringe aus dem Nichts
Biologisches Modellsystem mit „absorbierendem Zustand“ bildet Sackgasse für Energie.
Ein Güterzug würde, sofern die Lok mit ausreichend Energie versorgt wird, fahren so weit die Schienen reichen. Doch die Natur kennt auch Systeme, deren Dynamik plötzlich in eine Art Endlosschleife mündet. Wie in einem Hamsterrad wäre der Zug in einem solchen System gefangen – die Lok führe zwar, der Zug bewegte sich aber nicht mehr von der Stelle. Die Physiker nennen das einen absorbierenden Zustand. Wissenschaftlern des Exzellenzclusters Nanosystems Initiative Munich (Nim) ist es nun gelungen, aus nur drei Komponenten ein Modellsystem aufzubauen, um die Gesetzmäßigkeiten solcher Zustände zu erforschen.
Abb.: Zu Mikroringen verbundene Aktinfasern. (Bild: Lehrstuhl für Zelluläre Biophysik / TUM)
Von aktiven Systemen sprechen Naturwissenschaftler, wenn diese pausenlos Energie umsetzen. Solche Systeme begegnen uns überall: einfache Maschinen fallen ebenso in diese Kategorie wie hochentwickelte Lebewesen. Trotzdem sind unser Wissen und das Verständnis dieser Systeme noch sehr begrenzt. Denn oft finden wir komplexe Phänomene, wo eigentlich simple Verhaltensmuster erwartet wurden.
So erging es auch dem Physiker-Team um die Nim-Wissenschaftler Andreas Bausch, Professor für Biophysik an der Technischen Universität München (TUM) und Erwin Frey von der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Sie untersuchten, wie sich Fasern des Muskelproteins Aktin verhalten, wenn sie gleichzeitig transportiert und miteinander verbunden werden. Dabei beobachteten die Physiker, dass das System sich plötzlich nicht mehr weiter zu entwickeln scheint, obwohl pausenlos Energie umgesetzt wird.
Aus einem solchen absorbierenden Zustand kann sich das System nicht mehr befreien kann. Das Modellsystem der Physiker besteht aus nur drei Komponenten: dem Muskelprotein Aktin, Motorproteinen, die in der Zelle vor allem für Transport und Bewegung zuständig sind, sowie Faszin-Molekülen, um die Aktinfasern untereinander zu verbinden. Mit Hilfe dieses einfachen Modellsystems gelang es den Wissenschaftlern, die zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen.
Die aktive Komponente des Modellsystems, also den Transport der Aktin-Fasern, erledigen Millionen biologischer Motorproteine. Für den Versuch waren sie auf einer Oberfläche verankert. Stellten die Forscher dem System Energie in Form von Adenosintriphosphat (ATP), dem Treibstoff der Motorproteine, bereit, fingen die Fasern an, sich ungeordnet zu bewegen. Gaben die Forscher nun Vernetzermoleküle zu, verbanden sich die Einzelfasern. Dadurch entstanden stetig größere Strukturen, die dann ebenfalls transportiert wurden. Gegen Ende des Experiments waren alle Fasern in größere Strukturen eingebaut. Allerdings konnten sich diese Strukturen nun nicht mehr frei über die Oberfläche bewegen. Sie waren nun ortsfest, für immer und ewig – das System war in einem absorbierenden Zustand gefangen.
Die entstehenden Muster waren überraschend komplex. So formten sich unter anderem perfekte ringförmige Strukturen. Sie rotierten unter dem Einfluss der Motorproteine fortwährend und beinhalteten mehrere Millionen einzelner Fasern. Aus den nur nanometergroßen Bauteilen entstanden dabei wie von Geisterhand Mikrometer große Muster.
Theoretische Konzepte zur Beschreibung aktiver Systeme konnten zusammen mt Experimenten die Gesetzmäßigkeiten der Musterbildung identifizieren. Diese wurden anhand von Computermodellen untersucht. So gelang es, Größe und Gestalt der Muster auf Zufallsbewegungen auf molekularer Ebene zurückzuführen.
„Den besonderen Reiz des Modellsystems macht, neben der Faszination der nahezu perfekten Muster, ein scheinbarer Widerspruch aus“, sagt Biophysiker Andreas Bausch. Danach kann ein aktives System in einen absorbierenden Zustand übergehen, obwohl es beständig Energie verbraucht: „Ein absorbierender Zustand ist für das System wie eine Sackgasse: sobald auch nur ein Teil des Systems den Übergang vollzogen hat, gibt es kein Entrinnen mehr“, so Bausch. Derartige absorbierende Zustände finden sich in vielen, auch weitaus komplexeren aktiven Systemen, etwa beim Wachstum konkurrierender Zellpopulationen.
Doch liegen all diesen Systemen die gleichen fundamentalen Gesetzmäßigkeiten zu Grunde? Diese Überlegung gehört laut Frey zu den großen offenen Fragen in der Physik komplexer Systeme. „Zur Beantwortung dieser Fragen sind wir aber darauf angewiesen, zunächst einfache Modellsysteme zu entwickeln und zu verstehen“, betont der Münchner Physiker.
TUM / PH