10.12.2025

Physik nach Art einer Berglandschaft

Nichtlineare, getrieben-dissipative Systeme und ihre schlagartigen Phasenübergänge lassen sich mit topographischen Methoden klassifizieren.

Wenn ein Regentropfen irgendwo auf eine Berg­land­schaft fällt, wird die Schwer­kraft ihn auf einer bestimm­ten Bahn nach unten ziehen, bis er schließ­lich im Tal ankommt, einer Strömungs­linie. Die Gesamt­heit aller Strömungs­linien in der Berg- und Tal­land­schaft ergibt eine topo­gra­phi­sche Land­karte, die wie­de­rum die Struk­tur des Ter­rains wider­spiegelt. Diese Struk­tur bleibt gleich, solange sich das Gelände nicht verän­dert; sie ent­spricht einer unver­änder­li­chen Größe – einer „topolo­gischen Invari­ante“. Diese charak­teri­siert die Gesamt­struktur aller Strömungs­linien, ohne auf lokale Einzel­heiten einzu­gehen.

Topologischer Phasenübergang in nichtlinearen, getrieben-dissipativen Systemen. Die Strömungslinien markieren die Bahnen, denen der getriebene Resonator folgen kann, deren Landschaft und die Chiralität an den Anziehungspunkten, um die sich die Strömungslinien im oder gegen den Uhrzeigersinn winden.
Topologischer Phasenübergang in nichtlinearen, getrieben-dissipativen Systemen. Die Strömungslinien markieren die Bahnen, denen der getriebene Resonator folgen kann, deren "Landschaft" und die Chiralität an den Anziehungspunkten, um die sich die Strömungslinien im oder gegen den Uhrzeigersinn winden.
Quelle: AG Zilberberg, U Konstanz

Wenn nun ein Ruck durch die Land­schaft geht und sie sich verän­dert ordnen sich Strömungs­linien neu an, formen ein neues Muster aus Weg­strecken und Ver­bindungs­linien. Wenn wir die nun unter­schied­lichen Muster von vorher und nach­her mit­ein­ander ver­glei­chen – wie zwei Land­karten, die wir neben­einander­legen –, dann wird sicht­bar, wie sich die Topo­lo­gie des Sys­tems ent­wickelt hat, als sich seine grund­legenden Rahmen­beding­ungen änder­ten.

Nichtlineare physikalische Systeme wie die „getrieben-dissi­pativen Sys­teme“ können in ganz ähnli­cher Weise ver­stan­den werden wie die Berg­land­schaft. Wenn Systeme wie MEMS-Oszil­latoren ange­regt werden, weisen sie unter­schied­liche Schwingungs­zustände auf. In unserer Analo­gie ent­spre­chen die Täler den stabilen, gleich­mäßigen Schwing­ungen, die Berg­rücken hinge­gen den insta­bilen Zustän­den. Die Bäche, die den Berg hinab­fließen und schließ­lich im Tal münden, verkör­pern die Ent­wick­lung des Systems hin zum Gleich­gewicht. Phasen­über­gänge treten auf, wenn die Land­schaft neu geformt wird, sodass die Täler und Berg­kämme sich ver­schieben, ver­schwinden oder mitein­ander ver­schmel­zen, wodurch die Strömungs­linien des Sys­tems neu arrangiert werden.

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In einer neuen Publikation stellt ein Forschungs­team der Univer­sität Konstanz, der ETH Zürich und CNR INO Trento ein Rahmen­werk vor, um diese Verände­rungen des physika­lischen Systems zu erfassen. Mit diesem Rahmen­werk können solche Verän­de­rungen auf einheit­liche Weise klassi­fiziert und vergli­chen werden. In diesem Sinne lässt sich die „topolo­gische Invari­ante“, die sich aus der festen Anord­nung der Strömungs­linien in der Land­schaft ergibt, direkt in die Phasen­struk­tur eines Resonator­systems über­setzen: Jeder stabile Schwingungs­zustand entspricht einem Tal in einer dynami­schen Land­schaft.

Die Forschungs­gruppe unter Leitung von Oded Zilber­berg unter­sucht, wie die Topo­logie eines Systems – also seine Gesamt­struktur, das Muster aller Strömungs­linien – bestimmt, wie physika­lische Systeme plötz­lich ihr Ver­hal­ten ändern können. In der Physik erweist sich die Topologie so als nütz­liches Werk­zeug, um zu ent­hül­len, wie die glo­bale Struk­tur eines Sys­tems seine Dynami­ken be­ein­flusst. Zilber­bergs For­schung zu „synthe­ti­schen Dimen­sionen“ (Inter­acting Open Synthetic Dimen­sions Systems, IOSynDim) wurde jetzt mit einem ERC Con­soli­dator Grant aus­ge­zeich­net.

Nun sind die traditionellen topolo­gischen Methoden auf lineare Systeme aus­gelegt. Um jedoch auch die Komple­xität eines nicht­linearen, getrieben-dissi­pa­tiven Systems widerzu­spiegeln, entwickelte das Team sein Rahmen­werk: Von der Topo­graphie inspiriert, kartiert es die sinnbildlichen „Täler“, „Bergrücken“ und das Netz an Strömungs­linien von physika­lischen Systemen. In den hoch­dynami­schen nicht­line­aren Systemen sind die Strömungslinien aber keine lang­gestreck­ten Bäche, sondern können sich winden oder verwirbeln. Sie weisen dabei eine Chira­lität auf und diese zu berück­sichtigen ist wichtig, um das nicht­lineare Verhalten präziser und umfassender topologisch einzu­ordnen.

Das Forschungsteam stellt sein Rahmen­werk als neue Methode vor, um zu erfassen, wie nicht­lineare Systeme sich während Phasen­über­gängen entwickeln – also während der plötz­lichen Struktur­veränderungen, wenn ein System von einer stabilen Anordnung in eine andere über­geht – wie der Ruck, der durch die Berg­land­schaft geht und sie dauer­haft verän­dert. Die Schlüsselfrage lautet dabei: Welche Merk­male bleiben unver­ändert, wenn sich die Landschaft des Systems verändert? Diese beständigen Merkmale, bekannt als topolo­gische Invari­anten, ermög­lichen es, die Struk­tur und Stabi­li­tät des Systems besser zu verstehen.

Im Gegensatz zu graduellen Verän­derungen einzelner Para­meter geschehen diese Phasen­über­gänge schlag­artig. Ein physika­lisches System kann für eine lange Zeit stabil bleiben, um dann plötzlich in ein neues Verhaltens­muster umspringen. Oded Zilberberg vergleicht dies mit dem Hinaufsteigen einer Leiter: Das System bewegt sich nicht gleichmäßig hinauf, sondern steigt sprunghaft von Stufe zu Stufe. Das Forschungsteam möchte ergründen, wie diese Sprünge geschehen – und wie die nun veränderten Zustände doch über topologische Invari­anten verbunden bleiben. „Uns geht es nicht nur darum, Invari­anten zu identi­fi­zieren“, unter­streicht Greta Villa, Doktorandin in der Arbeits­gruppe von Oded Zilberberg, „sondern vor allem darum, zu verstehen, wie eine stabile Konfigu­ration in eine andere über­geht.“

Das Bild der Berglandschaft ist freilich nur eine Analogie, um das Konzept zu verstehen. In der Praxis ist es aber für eine breite Spanne an Anwen­dungen relevant. Die For­schungs­ergeb­nisse sind wichtig für die Photo­nik, Mechanik, Elek­tronik sowie für Experi­mente mit Teilchen bei Tempera­turen nahe dem abso­luten Null­punkt („cold atoms“). So spielen zum Beispiels MEMS-Oszil­latoren, wie sie in den Experi­menten der Arbeits­gruppe von Alexan­der Eichler an der ETH Zürich zum Ein­satz kamen, eine Schlüssel­rolle für Techno­logien wie Geräusch­filter in Mobiltelefonen, die dafür sorgen, dass Telefon­gespräche auch bei lauten Hinter­grund­geräuschen noch gut ver­ständ­lich sind. [U Konstanz / dre]

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