Physikalisches Modell offenbart Wirtschaftswachstum
Exportzahlen als Grundlage für verblüffend gute Prognosen des Bruttoinlandsprodukts.
Komplexe Modellrechnungen dienen als Frühwarnsystem für drohende Wirtschaftskrisen. Hunderte Parameter einer Volkswirtschaft fließen in diese Berechnungen und liefern dennoch nicht immer verlässliche Daten. Mit physikalischen Modellen – vergleichbar mit Algorithmen für die Wettervorhersage - entwarfen nun italienische Wissenschaftler eine neue Vorhersagemethode, die sowohl deutlich weniger Parameter nutzt als auch bessere Ergebnisse liefern kann.
Abb.: Das neue „Fitness-Modell“ liefert vor allem für Industriestaaten (rechts) verlässliche Vorhersagen für das Wirtschaftswachstum (Pfeile). Für Schwellen- und Entwicklungsländer (links) sind die Prognosen ungenauer. (Bild: L. Pietronero et al., La Sapienza Univ. Rom)
Staatsschulden, Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsalter oder Bildungsniveau – Mehr als einhundert Faktoren beeinflussen die Wirtschaftskraft eines Staates. Auf der Basis dieser Parameter kann mit extrem komplexen und leider auch fehleranfälligen Modellen das zu erwartende Wirtschaftswachstum ermittelt werden. Ein wesentlicher Grund liegt in den Schwankungen der zahlreichen Faktoren, die einem ungünstigen Signal-Rausch-Verhältnis entsprechen. Die theoretischen Physiker Luciano Pietronero und Andrea Tacchella von der La Sapienza Universität in Rom haben nun gemeinsam mit der Weltbank in Washington ein deutlich einfacheres Modell entwickelt, das sogar bis zu 25 Prozent genauere Vorhersagen liefert als die herkömmlichen Prognosemethoden.
Lediglich zwei Faktoren – das aktuelle Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf und die „wirtschaftliche Fitness“ eines Staates flossen in das neue Prognosemodell ein. Dieser Fitness-Faktor berechnet sich ausschließlich aus den Exportzahlen eines Staates in verschiedenen Produktfehlern wie etwa Autos oder mobile Elektronik. So kann die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft anhand der erfolgten Produktexporte beurteilt werden. In dem neuen dynamischen Modell beschreiben die beiden Faktoren einen physikalischen Zustandsraum, analog zu einer Wetterlage, in der Luftdruck, Temperatur, Windbewegungen und Niederschläge betrachtet werden. Dabei können sowohl stabile als auch fluktuierende Parameter, entsprechend laminarer oder turbulenter Strömungen in die Prognosen einfließen.
Jeder Faktor kann deutlich einfacher um geringe Werte variiert werden als bei bisherigen Modellen mit Dutzenden Parametern. Ergebnis dieser Berechnungen waren für die untersuchten 169 Staaten Scharen von Prognosen für das jeweils zu erwartende Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Diese Prognosen verglichen die Forscher mit ähnlichen, analogen Wirtschaftsentwicklungen aus bereits analysierten Fünf-Jahres-Zeiträumen zwischen 2008 und 2015. Aus diesen Vergleichen ließ sich eine möglichst analoge, wirtschaftliche Entwicklung ermitteln, die die Grundlage für die wahrscheinlichste Wachstumsprognose für die Folgejahre ergab.
Testweise wendeten Pietronero und Kollegen ihre Methode auf Wirtschaftszahlen aus den Jahren zwischen 2008 und 2015 an. Dabei erkannten sie, dass die Prognosen für hoch entwickelte Industriestaaten wie Japan oder Deutschland eher zutreffend waren als für Schwellen- oder Entwicklungsländern. Für Industriestaaten schwankten die Prognosen gering, was vergleichbar war mit einem Bereich laminarer Strömungen. Staaten wie Tansania, Kolumbien oder Brasilien dagegen wiesen größere Fluktuationen der Export- und BIP-Zahlen auf. Die Prognosen waren dadurch unzuverlässiger und schwankten stärker, analog zu einem Bereich chaotischer, turbulenter Strömungen.
Überzeugt vom neuen „Fitness-Modell“ will die Weltbank dieses Verfahren nun verstärkt für ihre Wirtschaftsprognosen nutzen. Auch die Regierungen in China und Italien könnten in naher Zukunft für ihre Planungen auf das neue Modell zurückgreifen. Ähnliche Ansätze könnten andere technologische oder wissenschaftliche „Fitness-Faktoren“ nutzen, die nicht auf Exportzahlen, sondern auf der Anzahl von Patenten oder auf Forscheraktivitäten – messbar über die Anzahl an Veröffentlichungen gewichtet mit den Impact-Faktoren von wissenschaftlichen Zeitschriften – beruhen.
Jan Oliver Löfken
Weitere Infos
Weitere Beiträge
JOL