Materie gefriert bei tiefen Temperaturen und die Atome bilden eine feste, regelmäßige Struktur. Auch in magnetischen Materialien kommen die magnetischen Momente der Elektronen – die Spins – bei sinkenden Temperaturen zur Ruhe und richten sich starr aus. Allerdings gibt es seltene Ausnahmen: In Quanten-Spinflüssigkeiten bleiben die Elektronenspins selbst bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt beweglich. Nach bisherigem Verständnis sind dafür antiferromagnetische Wechselwirkungen zwischen den Spins verantwortlich, die die Spins antiparallel ausrichten. So können sich die Spins an den Ecken eines Dreiecks nicht zu beiden Nachbaratomen gleichzeitig antiparallel ausrichten. Diese „Frustration“ sorgt dafür, dass die Spins selbst am absoluten Nullpunkt nicht zur Ruhe kommen und wie in einer Flüssigkeit beweglich bleiben. Die parallele Ausrichtung ist dagegen immer möglich. Entsprechend kamen bislang nur wenige Materialien für Spinflüssigkeiten in Frage.
Abb.: Im Kristallgitter von Kalzium-Chrom-Oxid gibt es sowohl ferromagnetische Wechselwirkungen (grüne und rote Balken) als auch antiferromagnetische (blaue Balken). (Bild: HZB)
Jetzt hat ein Team am Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie um um Bella Lake Einkristalle aus Kalzium-Chrom-Oxid hergestellt und untersucht. Kalzium-Chrom-Oxid ist aus Kagomé-Gittern aufgebaut, die an japanische Flechtmuster aus Dreiecken und Sechsecken erinnern. Dabei bildet sich in Kalzium-Chrom-Oxid ein komplexes Set an magnetischen Wechselwirkungen: So gibt es nicht nur antiferromagnetische Kopplungen, sondern auch sehr starke ferromagnetische Wechselwirkungen, die nach dem gängigen Modell eine Spinflüssigkeit verhindern müssten. Experimente an verschiedenen Neutronenquellen in Deutschland, Frankreich, England und den USA zeigten jedoch, dass die Spins in diesen Proben auch bei tiefsten Temperaturen von zwanzig Millikelvin hochbeweglich bleiben. Auch Myonen-Spektroskopie-Messungen am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz belegten, dass sich die Spins in diesem Kristall wie eine Flüssigkeit verhalten.
Johannes Reuther vom HZB konnte nun mit Hilfe dieser experimentellen Hinweise das Bild von Spinflüssigkeiten entsprechend erweitern. Mit numerischen Simulationen zeigte er, wie die verschiedenen magnetischen Kopplungen in Kalzium-Chrom-Oxid miteinander konkurrieren und die Spins in dynamischer Bewegung halten.
„Wir haben experimentell nachgewiesen, dass interessante Quantenzustände wie Spinflüssigkeiten auch in deutlich komplexeren Kristallen mit unterschiedlichen magnetischen Wechselwirkungen auftreten können“, sagt Christian Balz, Erstautor der Arbeit. Und Lake erklärt: „Die Arbeit erweitert nicht nur das Verständnis von kristalliner Materie, sondern zeigt auch, dass es sehr viel mehr Kandidaten für Spinflüssigkeiten gibt, als erwartet. Dies könne in Zukunft für die Entwicklung von Quantencomputern interessant sein, denn Spinflüssigkeiten gelten als mögliche Bausteine für kleinste Informationseinheiten, die Qubits.“
HZB / RK