13.07.2018

Quelle hochenergetischer Neutrinos identifiziert

Multi-Messenger-Astronomie bestätigt Blazar als Ursprung der Geisterteilchen.

Mit einer international angelegten astronomischen Ring­fahndung haben Forscher erstmals eine Quelle hoch­energetischer kosmischer Neutrinos geortet. Die gemeinsame Beobachtungs­kampagne wurde durch ein einzelnes Neutrino ausgelöst, welches das Neutrino­teleskop IceCube am Südpol am 22. September 2017 aufgezeichnet hatte. Die Wissenschaftler aus insgesamt 18 Observatorien waren dabei beteiligt. Die Teleskope auf der Erde und im Welt­raum konnten den Ursprung des exotischen Elementar­teilchens in einer fast vier Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie im Sternbild Orion ermitteln, in der ein gigantisches schwarzes Loch als natürlicher Teilchen­beschleuniger fungiert. Eine zweite Analyse zeigt zudem, dass bereits früher von IceCube aufgezeichnete Neutrinos ebenfalls aus dieser Quelle stammen.

Abb.: Künstlerische Darstellung des aktiven Galaxienkerns (Bild: DESY, Science Communication Lab)

Die Beobachtungskampagne, an der Forscher aus Deutschland zentral beteiligt waren, ist ein entscheidender Schritt zur Lösung des mehr als hundert Jahre alten Rätsels der genauen Herkunft energiereicher, sub­atomarer Teilchen aus dem Weltall, die als kosmische Strahlung fortwährend auf die Erd­atmosphäre hageln. „Das ist ein Meilen­stein für das junge Feld der Neutrino-Astronomie. Wir öffnen ein neues Fenster in das Hoch­energie-Universum“, sagt Marek Kowalski, Leiter der Neutrino-Astronomie bei DESY, einem Forschungs­zentrum der Helmholtz-Gemeinschaft, und Forscher an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Die konzertierte Beobachtungs­aktion mit Instrumenten rund um den Globus ist auch ein wichtiger Erfolg der Multi-Messenger-Astronomie, also der Unter­suchung des Kosmos mit Hilfe verschiedener Boten wie elektro­magnetischer Strahlung, Gravitations­wellen und Neutrinos.“

Die energiereichen Neutrinos entstehen nach Erwartung der Wissenschaftler unter anderem als eine Art Neben­produkt in kosmischen Teilchen­beschleunigern wie etwa dem Materie­strudel gigantischer schwarzer Löcher oder explodierenden Sternen gemeinsam mit den elektrisch geladenen Atomkernen der kosmischen Teilchen­strahlung. Anders als diese Atom­kerne werden die elektrisch neutralen Neutrinos auf ihrem Weg durchs Welt­all jedoch nicht von kosmischen Magnet­feldern abgelenkt, so dass ihre Ankunfts­richtung direkt zu ihrer Quelle weist. „Die Beobachtung kosmischer Neutrinos erlaubt Einblicke in solche Vorgänge, die für elektro­magnetische Strahlung undurch­sichtig sind“, ergänzt Klaus Helbing von der Bergischen Universität Wuppertal, Sprecher des deutschen IceCube-Verbunds. „Kosmische Neutrinos sind Boten aus dem Hoch­energie-Universum.“

Der Nachweis von Neutrinos ist allerdings extrem aufwändig, denn die geister­haften Elementar­teilchen durchqueren mühelos selbst die komplette Erde, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nur ganz selten reagiert ein Neutrino mit seiner Umgebung. Es erfordert gewaltige Detektoren, um wenigstens ein paar der seltenen Reaktionen zu erwischen. Für den IceCube-Detektor hat ein inter­nationales Forscher-Konsortium unter Führung der Universität von Wisconsin in Madison (USA) darum 86 Löcher ins Eis der Antarktis gebohrt, jedes 2500 Meter tief. In diese Löcher wurden, verteilt über einen vollen Kubik­kilometer, 5160 Lichtsensoren installiert. Diese registrieren die winzigen Licht­blitze, die bei den seltenen Neutrino-Reaktionen im durch­sichtigen Eis entstehen.

Vor fünf Jahren hat IceCube zum ersten Mal hoch­energetische Neutrinos aus den Tiefen des Weltalls nachgewiesen. Die Ankunfts­richtungen dieser Neutrinos schienen aber zufällig über den Himmel verteilt zu sein. „Wir wussten bis heute nicht, woher sie stammen“, sagt Elisa Resconi von der Technischen Universität München, deren Gruppe wesentlich zu den Ergebnissen beigetragen hat. „Mit dem Neutrino vom 22. September ist es uns jetzt gelungen, eine erste Quelle zu identifizieren.“

Dieses Neutrino hatte eine Energie von etwa 300 Tera-Elektronen­volt, das ist mehr als vierzig Mal so viel, wie die Protonen im größten Teilche­nbeschleuniger der Erde erreichen, dem Large Hadron Collider am europäischen Beschleuniger­zentrum CERN bei Genf. Wenige Minuten nachdem das Neutrino aufgezeichnet worden war, schickte der IceCube-Detektor eine automatische Benachrichtigung an zahlreiche andere astronomische Observatorien. Eine große Zahl davon untersuchte daraufhin die Herkunfts­region des energie­reichen Teilchens, quer durch das elektro­magnetische Spektrum: von der Gamma- und Röntgen­strahlung über das sichtbare Licht bis hin zu den Radio­wellen. Tatsächlich ließ sich auf diese Weise erstmals der Herkunfts­richtung eines hoch­energetischen kosmischen Neutrinos ein Himmels­objekt zuordnen.

„In unserem Fall haben wir eine aktive Galaxie gesehen, das ist eine große Galaxie mit einem riesigen schwarzen Loch im Zentrum“, erklärt Kowalski. Senkrecht zu dem gigantischen Strudel, mit dem Materie ins Schwarze Loch gesaugt wird, schießen gewaltige Jets ins All hinaus. Astro­physiker haben schon länger vermutet, dass in diesen Jets ein erheblicher Teil der kosmischen Teilchen­strahlung erzeugt wird. „Für diese Annahme haben wir jetzt einen entscheidenden Beleg geliefert“, unterstreicht Resconi.

Bei der jetzt identifizierten aktiven Galaxie handelt es sich um einen Blazar, eine aktive Galaxie, deren Jet genau auf uns zeigt. Bei diesem Blazar mit der Katalog­nummer TXS 0506+056 hatte der Gamma­strahlen-Satellit Fermi der US-Raum­fahrt­behörde NASA durch eine von DESY-Forschern entwickelte Software einen drastischen Anstieg der Aktivität um den 22. September herum registriert. Auch ein irdisches Gamma­strahlen-Observatorium wurde nun fündig. „Bei der Nach­beobachtung des Neutrinos mit dem Teleskop­system MAGIC auf der Kanaren­insel La Palma konnten wir den Blazar erstmals auch im Bereich der sehr energie­reichen Gamma­strahlung nachweisen“, sagt die Koordinatorin der MAGIC-Beobachtungen, Elisa Bernardini von DESY. „Die Gamma­strahlen kommen der Neutrino-Energie am nächsten und tragen damit besonders zu der Entschlüsselung der Produktions­mechanismen der Neutrinos bei.“ Das Programm zur effizienten Nach­beobachtung von Neutrinos mit Gamma­strahlen-Teleskopen wurde von Bernardinis Gruppe entwickelt.

Die NASA-Röntgensatelliten Swift und NuSTAR registrierten ebenfalls den Ausbruch des Blazars. Auch die erd­gebundenen Gamma-Teleskope HESS, HAWC und VERITAS sowie die Gamma- und Röntgen-Satelliten „AGILE“ der italienischen Raum­fahrt­agentur ASI und „Integral“ der Europäischen Weltraum­organisation ESA beteiligten sich an der Nach­beobachtung. Insgesamt sieben optische Observatorien (der ASAS-SN-Verbund, das Liverpool-, Kanata-, Kiso-, SALT- und Subaru-Teleskop sowie das Very Large Telescope VLT der europäischen Süd­stern­warte ESO) beobachteten die aktive Galaxie, und das Karl G. Jansky Very Large Array (VLA) verfolgte die Aktivität im Bereich der Radio­wellen. So entstand ein umfassendes Bild der Strahlung dieses Blazars, von der Radio­strahlung bis zu hunderte Milliarden Mal energie­reicherer Gamma­strahlung.

Um zu untersuchen, ob das Zusammen­treffen des Neutrinos mit den Gamma-Beobachtungen nur ein Zufall gewesen sein könnte, arbeitete unter Hoch­druck ein weltweites Team von Wissen­schaftlern aus allen beteiligten Gruppen an einer komplizierten statistischen Analyse. „Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich lediglich um eine zufällige Koinzidenz handelt, haben wir auf ungefähr 1 zu 1000 bestimmt“, erklärt die Leiterin der statistischen Analyse der unter­schiedlichen Daten­sätze, Anna Franckowiak von DESY. Das klingt wenig, ist aber noch nicht wenig genug, um der berufs­mäßigen Skepsis von Physikern zu begegnen.

Das änderte eine zweite Analyse: Die IceCube-Forscher durchsuchten ihre Daten der vergangenen Jahre auf mögliche frühere Messungen von Neutrinos aus der Richtung des jetzt identifizierten Blazars. Tatsächlich fanden sie für September 2014 bis März 2015 einen merklichen zeit­weiligen Neutrino-Überschuss von mehr als einem Dutzend aus der Richtung von TXS 0506+056. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Überschuss lediglich ein statistischer Ausreißer ist, wird auf nur 1 zu 5000 geschätzt. „Eine Zahl, bei der man hellhörig wird“, sagt Christoper Wiebusch von der RWTH Aachen, dessen Gruppe schon in einer früheren Analyse die Andeutung eines Neutrino-Überschusses aus der Richtung von TXS 0506+056 festgestellt hatte. „Die Daten erlauben uns zudem eine erste Abschätzung des Neutrino-Flusses von dieser Quelle.“ Zusammen mit dem Einzel­ereignis vom September 2017 liefern die IceCube-Daten nun den bislang besten experimentellen Beleg dafür, dass aktive Galaxien Quellen energie­reicher kosmischer Neutrinos sind.

„Wir verstehen jetzt besser, wonach wir suchen müssen. Für die Zukunft heißt das, dass wir solche Quellen gezielter aufspüren können“, sagt Elisa Resconi. Und Marek Kowalski fügt hinzu: „Da Neutrinos eine Art Neben­produkt von geladenen Teilchen der kosmischen Strahlung sind, impliziert unsere Beobachtung, dass aktive Galaxien auch die Beschleuniger dieser Teilchen sind. Mehr als ein Jahrhundert nach der Entdeckung der kosmischen Strahlung durch Victor Hess im Jahr 1912 hat IceCube damit erstmals eine konkrete extra­galaktische Quelle der energie­reichen Teilchen geortet.“

DESY / DE

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