Rätsel um „verschwundenen“ Drehimpuls gelöst
Analyse des Drehimpulses bei schneller Entmagnetisierung von Nickelkristallen.
In einem geschlossenen physikalischen System bleibt die Summe aller Drehimpulse konstant. Dabei müssen die Drehimpulse nicht notwendigerweise echte Drehungen sein: Magnetische Materialien besitzen selbst dann einen Drehimpuls, wenn sie von außen betrachtet ruhen. Das konnten die Physiker Albert Einstein und Wander Johannes de Haas bereits 1915 nachweisen. Wird nun ein derart magnetisiertes Material mit kurzen Pulsen aus Laserlicht beschossen, so verliert es extrem schnell seine magnetische Ordnung. Innerhalb von Femtosekunden wird es entmagnetisiert.
Der Spin der Elektronen im Material nimmt somit schlagartig ab, viel schneller als sich das Material in Drehung versetzen kann. Nach dem Erhaltungssatz darf der Drehimpuls jedoch nicht einfach verloren gehen. Wohin also überträgt sich der Drehimpuls der Elektronen in so extrem kurzer Zeit? Die Lösung dieses Rätsels fand nun ein Team unter Konstanzer Führung. Die Forschenden untersuchten die Entmagnetisierung von Nickelkristallen mithilfe der ultraschnellen Elektronenbeugung – einem zeitlich und räumlich hochpräzisen Messverfahren, das den Verlauf struktureller Veränderungen auf atomarer Ebene sichtbar machen kann. Sie konnten zeigen, dass die Elektronen des Kristalls ihren Drehimpuls bei der Entmagnetisierung binnen weniger hundert Femtosekunden auf die Atome des Kristallgitters übertragen.
Magnetische Phänomene spielen insbesondere in der Informationsverarbeitung und der Speicherung von Daten eine wichtige Rolle. „Die Geschwindigkeit und Effizienz bestehender Technologien wird dabei häufig durch die vergleichsweise lange Dauer magnetischer Schaltvorgänge begrenzt“, erklärt Peter Baum. Umso interessanter für die Materialforschung ist daher ein überraschendes Phänomen, das unter anderem in Nickel zu beobachten ist: die ultraschnelle Entmagnetisierung durch den Beschuss mit Laserpulsen. Durch den Beschuss mit Laserlicht kann die perfekte Ausrichtung der magnetischen Momente binnen kürzester Zeit zerstört werden. „Dazu reicht ein Laserpuls von unter 100 Femtosekunden Dauer“, erklärt Ulrich Nowak. An dieser Stelle kommt der Drehimpuls-Erhaltungssatz ins Spiel. Da die Summe aller Drehimpulse im Material jedoch erhalten bleiben muss, kann der Spin nicht einfach verschwinden. Stattdessen muss er in irgendeiner Form woandershin übertragen werden. Wie das innerhalb von Femtosekunden geschehen kann, war bislang unklar und es gab lediglich widersprüchliche theoretische Überlegungen dazu.
Ausgehend von einer Hypothese von Peter Baum und Ulrich Nowak erarbeitete ein Team aus der theoretischen Physik zunächst mit Hilfe von Computersimulationen eine Reihe von Vorhersagen über mögliche atomare Bewegungen während der ultraschnellen Entmagnetisierung. Die Experimentalphysiker überprüften diese Vorhersagen anschließend durch Experimente mit Femtosekundenlasern und ultrakurzen Pulsen aus Elektronen. Die untersuchten ultradünnen Nickelkristalle kamen vom Team von Wolfgang Kreuzpaintner von der Technischen Universität München. „Für unser Experiment haben wir einen Kristall aus Nickel zunächst in eine bestimmte Richtung magnetisiert, um ihn anschließend mit einem Femtosekunden-Laserpuls ultraschnell zu entmagnetisieren“, schildert Peter Baum den Grundaufbau des Experiments. Währenddessen beobachteten die Forschenden um Sonja Tauchert den Kristall mithilfe der ultraschnellen Elektronenbeugung. Diese Methode erlaubt es, Informationen über die zeitlichen Veränderungen in der Struktur von Materialien zu gewinnen – und das mit atomarer räumlicher Präzision und einer zeitlichen Auflösung im Femtosekundenbereich. Die entstehenden Sequenzen von Beugungsmustern konnten dann anhand der computergestützten Vorhersagen der Theoretiker interpretiert werden.
„Unsere Experimente und Simulationen ergaben, dass sich der Drehimpuls der Elektronen auf derselben Zeitskala, auf der die magnetische Ordnung des Kristalls verloren geht, lokal auf die Atome des Kristallgitters überträgt“, erklärt Ulrich Nowak. Die Atome beginnen zunächst vereinzelt, sich auf kreisförmigen Bahnen um ihre ursprünglichen Ruhelage zu bewegen. Durch Wechselwirkung mit benachbarten Atomen wird diese Bewegung und damit der Drehimpuls sehr schnell auf alle weiteren Atome übertragen. Am Ende gerät das gesamte Kristallgitter in eine Schwingung aus kleinsten Kreisbahnen. Im geschilderten, speziellen Fall sind diese Phononen zirkular polarisiert und tragen daher einen Drehimpuls.
Derartige Effekte könnten genutzt werden, um magnetische Materialien mittels Laserlicht zu kontrollieren und möglicherweise effizientere Alternativen zur herkömmlichen Elektronik zu schaffen. „Unsere Hoffnung ist, dass wir dadurch in Zukunft verbesserte Bauteile herstellen können. Anders als die jetzigen Elektronikkomponenten würden diese – anstatt mit Ladungstransport – dann mit Spintransport arbeiten, was deutlich energieeffizienter wäre“, erklärt Ulrich Nowak. „Mit dem Nachweis, dass Gitterschwingungen einen Spin transportieren können, eröffnen wir einen neuen, möglicherweise vielversprechenden Weg zu neuartigen Bauelementen in der Spintronik.“
U. Konstanz / JOL