04.02.2022

Rätsel um „verschwundenen“ Drehimpuls gelöst

Analyse des Drehimpulses bei schneller Entmagnetisierung von Nickelkristallen.

In einem geschlossenen physi­kalischen System bleibt die Summe aller Drehimpulse konstant. Dabei müssen die Drehimpulse nicht notwendiger­weise echte Drehungen sein: Magnetische Materialien besitzen selbst dann einen Drehimpuls, wenn sie von außen betrachtet ruhen. Das konnten die Physiker Albert Einstein und Wander Johannes de Haas bereits 1915 nachweisen. Wird nun ein derart magne­tisiertes Material mit kurzen Pulsen aus Laserlicht beschossen, so verliert es extrem schnell seine magnetische Ordnung. Innerhalb von Femto­sekunden wird es entmag­netisiert.

Abb.: Bei der ultraschnellen Entmagne­tisierung führt die Drehung der...
Abb.: Bei der ultraschnellen Entmagne­tisierung führt die Drehung der magne­tischen Momente zu einer sofortigen Rotations­bewegung der Atome. (Bild: H. Lange et al., U. Konstanz)

Der Spin der Elektronen im Material nimmt somit schlagartig ab, viel schneller als sich das Material in Drehung versetzen kann. Nach dem Erhaltungs­satz darf der Drehimpuls jedoch nicht einfach verloren gehen. Wohin also überträgt sich der Drehimpuls der Elektronen in so extrem kurzer Zeit? Die Lösung dieses Rätsels fand nun ein Team unter Konstanzer Führung. Die Forschenden untersuchten die Entmagne­tisierung von Nickel­kristallen mithilfe der ultraschnellen Elektronen­beugung – einem zeitlich und räumlich hochpräzisen Mess­verfahren, das den Verlauf struk­tureller Veränderungen auf atomarer Ebene sichtbar machen kann. Sie konnten zeigen, dass die Elektronen des Kristalls ihren Drehimpuls bei der Entmagne­tisierung binnen weniger hundert Femtosekunden auf die Atome des Kristall­gitters übertragen.

Magnetische Phänomene spielen insbesondere in der Informations­verarbeitung und der Speicherung von Daten eine wichtige Rolle. „Die Geschwin­digkeit und Effizienz bestehender Technologien wird dabei häufig durch die vergleichsweise lange Dauer magnetischer Schalt­vorgänge begrenzt“, erklärt Peter Baum. Umso interessanter für die Material­forschung ist daher ein über­raschendes Phänomen, das unter anderem in Nickel zu beobachten ist: die ultraschnelle Entmagne­tisierung durch den Beschuss mit Laserpulsen. Durch den Beschuss mit Laserlicht kann die perfekte Ausrichtung der magnetischen Momente binnen kürzester Zeit zerstört werden. „Dazu reicht ein Laserpuls von unter 100 Femto­sekunden Dauer“, erklärt Ulrich Nowak. An dieser Stelle kommt der Drehimpuls-Erhaltungs­satz ins Spiel. Da die Summe aller Drehimpulse im Material jedoch erhalten bleiben muss, kann der Spin nicht einfach verschwinden. Statt­dessen muss er in irgendeiner Form woandershin übertragen werden. Wie das innerhalb von Femto­sekunden geschehen kann, war bislang unklar und es gab lediglich wider­sprüchliche theoretische Überlegungen dazu.

Ausgehend von einer Hypothese von Peter Baum und Ulrich Nowak erarbeitete ein Team aus der theo­retischen Physik zunächst mit Hilfe von Computersimulationen eine Reihe von Vorher­sagen über mögliche atomare Bewegungen während der ultra­schnellen Entmagne­tisierung. Die Experimental­physiker überprüften diese Vorhersagen anschließend durch Experimente mit Femtosekundenlasern und ultrakurzen Pulsen aus Elektronen. Die untersuchten ultradünnen Nickel­kristalle kamen vom Team von Wolfgang Kreuz­paintner von der Tech­nischen Universität München. „Für unser Experiment haben wir einen Kristall aus Nickel zunächst in eine bestimmte Richtung magnetisiert, um ihn anschließend mit einem Femto­sekunden-Laserpuls ultraschnell zu entmagne­tisieren“, schildert Peter Baum den Grundaufbau des Experiments. Während­dessen beobachteten die Forschenden um Sonja Tauchert den Kristall mithilfe der ultra­schnellen Elektronen­beugung. Diese Methode erlaubt es, Informationen über die zeitlichen Verän­derungen in der Struktur von Materialien zu gewinnen – und das mit atomarer räumlicher Präzision und einer zeitlichen Auflösung im Femtosekunden­bereich. Die entstehenden Sequenzen von Beugungs­mustern konnten dann anhand der computer­gestützten Vorhersagen der Theoretiker interpretiert werden.

„Unsere Experimente und Simu­lationen ergaben, dass sich der Drehimpuls der Elektronen auf derselben Zeitskala, auf der die magnetische Ordnung des Kristalls verloren geht, lokal auf die Atome des Kristall­gitters überträgt“, erklärt Ulrich Nowak. Die Atome beginnen zunächst vereinzelt, sich auf kreis­förmigen Bahnen um ihre ursprünglichen Ruhelage zu bewegen. Durch Wechselwirkung mit benachbarten Atomen wird diese Bewegung und damit der Drehimpuls sehr schnell auf alle weiteren Atome übertragen. Am Ende gerät das gesamte Kristall­gitter in eine Schwingung aus kleinsten Kreisbahnen. Im geschil­derten, speziellen Fall sind diese Phononen zirkular polarisiert und tragen daher einen Drehimpuls.

Derartige Effekte könnten genutzt werden, um magnetische Materialien mittels Laserlicht zu kontrollieren und möglicher­weise effi­zientere Alter­nativen zur herkömm­lichen Elektronik zu schaffen. „Unsere Hoffnung ist, dass wir dadurch in Zukunft verbesserte Bauteile herstellen können. Anders als die jetzigen Elektronik­komponenten würden diese – anstatt mit Ladungstransport – dann mit Spintransport arbeiten, was deutlich energie­effizienter wäre“, erklärt Ulrich Nowak. „Mit dem Nachweis, dass Gitter­schwingungen einen Spin transpor­tieren können, eröffnen wir einen neuen, möglicher­weise vielver­sprechenden Weg zu neuartigen Bauelementen in der Spintronik.“

U. Konstanz / JOL

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