16.12.2016

Rätselhafte Spuren in Röntgens Labor

Internationale Suche liefert Erklärung für seltsame mathe­matische Formeln.

Tony Bracken ist emeritierter Professor für Mathematik der Univer­sity of Queens­land in Austra­lien. So ist es nicht verwun­der­lich, dass eine seltsame Beob­achtung bei seinem jüngsten Besuch als Tourist in Würz­burg seine Neu­gierde weckte. „In der Röntgen-Gedächtnis­stätte fielen mir zwei seltsame trigono­metrische Formeln auf, die am west­lichen Eingang des Gebäudes in den Boden ein­gra­viert waren“, schreibt Bracken. Ihre Bedeutung konnte sich der Mathe­matiker nicht erklären. „Für mich sahen sie nach Unsinn aus. Aber viel­leicht haben sie ja eine Bedeu­tung im Zusam­men­hang mit der Forschung, die damals in dem Gebäude betrieben wurde.“

Abb.: Zwei mysteriöse Formeln im Eingang der Röntgen-Gedächtnis­stätte haben einen Touristen aus Australien stutzig gemacht. Die Über­prüfung mit einer speziellen Soft­ware bestätigt: Die Formeln geben das Fliesen­muster vor. (Bild: G. Bartsch, U. Würzburg)

Auf der Suche nach einer Lösung für dieses Rätsel wandte sich Bracken zunächst an die Presse­stelle der Uni Würzburg. Doch dort konnte man ihm nicht weiter­helfen. Licht in das Dunkel sollte erst ein Brief bringen, den Bracken in „Physics World“ veröffent­lichte, in dem er die Formeln wieder­gab. „Mich hat darauf­hin ein englischer Physiker im Ruhe­stand kontak­tiert, der seiner­seits Kollegen in Deutsch­land befragt hatte“, schreibt Bracken.

Und tatsächlich: Einer dieser deutschen Kollegen hatte die Frage an die Hoch­schule für ange­wandte Wissen­schaften in Würzburg weiter­geleitet, in deren Besitz sich heute das Gebäude am Röntgen­ring befindet. Von dort erhielt er einen Zeitungs­artikel, der 1971 in der Main-Post erschienen war und der sich mit den selt­samen Formeln beschäf­tigte. Eine einge­scannte Version des Artikels lag der Post an Bracken bei.

Unter der Überschrift „sin x und sin y unter den Füßen“ hatte sich der Autor Ernst Nöth am 2. Juli 1971 mit der Bedeu­tung der Formeln beschäftigt. Das Ergebnis: Die mathe­matischen Formeln bilden die Grund­lage für das Muster der Boden­fliesen, die in dem Gebäude zu sehen sind. Zum Beweis zitiert Nöth aus einer hand­schrift­lichen Chronik von Friedrich Wilhelm Georg Kohl­rausch, der von 1875 bis 1888 als Vor­gänger von Wilhelm Conrad Röntgen Ordi­narius für Physik an der Uni Würzburg gewesen war: „Die Fußboden­plattung am Eingang wurde nach Zeich­nungen des Assis­tenten Dr. Strouhal aus Gefäl­lig­keit von Villeroy und Boch in Mett­lach unter Leitung des Inge­nieurs Hrn. Urbach herge­stellt. Die Curven fanden sich in einer ameri­ka­nischen Abhand­lung von Newton und Philipps.“

Vinzenz Strouhal, auf den die Zeichnung der Bodenplatten also zurückgeht, stammte aus Prag und war von 1875 bis 1879 wissen­schaft­licher Assis­tent bei Kohl­rausch und anschlie­ßend Privat­dozent. 1882 kehrte er nach Prag zurück – als einer der Gründungs­profes­soren im Bereich Physik an der Karls-Univer­sität. Dort absol­vierte er eine „heraus­ragende Karriere“, wie Bracken schreibt. Vor allem seine Forschung auf dem Gebiet der Physik von Flüssig­keiten sei von großer Bedeu­tung gewesen. Die Strouhal-Zahl – eine in der Strömungs­mechanik verwen­dete dimen­sions­lose Kenn­zahl – ist nach ihm benannt.

1875 hatte Friedrich Kohlrausch die ersten Pläne für das Physi­ka­lische Institut am späteren Röntgen­ring gezeichnet. Es sollten aller­dings drei Jahre ver­gehen, bis der Land­tag den Bau bewil­ligte. Am 18. Mai 1878 wurde mit dem Bau begonnen, am 8. November 1879 wurde das Institut eröffnet. Exakt 16 Jahre später – am 8. November 1895 – sollte Wilhelm Conrad Röntgen dort die Ent­deckung machen, die noch heute mit seinem Namen verbunden ist.

Damit ist also klar, dass die Formeln nichts mit Röntgens Forschung zu tun haben. Und eine Suche nach der „ameri­ka­nischen Abhand­lung von Newton und Philipps“, aus der sie stammen sollen, wurde bisher noch nicht gestartet. Immerhin konnte Anja Schlömer­kemper, Inhaberin des Lehr­stuhls für Mathe­matik in den Natur­wissen­schaften an der Uni Würzburg, bestätigen, dass die Formeln tat­säch­lich für das Fliesen­muster im Eingangs­bereich des eins­tigen Physika­lischen Instituts stehen. Mit Hilfe des Pro­gramms Mathe­matica konnte die Profes­sorin die Kurven anhand der Formeln graphisch dar­stellen. „Die Formel, in der 0.4375 vorkommt, entspricht dem Orna­ment auf den äußeren Fliesen; die andere Formel, also die mit 1.3685, ent­spricht dem Muster auf den inneren Fliesen“, erklärt Schlömer­kemper.

Und was bleibt nun als Fazit? Zumindest die Aussage, dass die Spuren im Boden der Röntgen-Gedächtnis­stätte Beweis dafür sind, „dass mathe­matische Formeln Genera­tionen, Regie­rungen, Kriege und Brände unbe­schädigt über­stehen, selbst wenn sie von Studenten, Assis­tenten und Profes­soren viele Jahr­zehnte mit Füßen getreten werden“, wie Ernst Nöth 1971 in der Main-Post schreibt. Und heute sogar von den Füßen auf­merk­samer Touristen aus Australien.

JMU / RK

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