25.01.2006

Reiseverhalten folgt Skalengesetzen

Geldscheine verraten wie oft und wie weit Menschen reisen. Es zeigen sich überraschende Gesetzmäßigkeiten.




Geldscheine verraten wie oft und wie weit Menschen reisen. Es zeigen sich überraschende Gesetzmäßigkeiten.

Unseren Reisemöglichkeiten sind (fast) keine Grenzen gesetzt. Wir legen zu Fuß ein paar Kilometer zurück, wir reisen mit dem Auto hunderte oder mit dem Flugzeug tausende von Kilometern. Wir entscheiden, ob wir in einigen Tagen, Monaten oder Jahren aufbrechen. Obwohl das Reiseverhalten einzelner Menschen kaum vorhersagbar ist, zeigen sich für große Bevölkerungsgruppen überraschende Gesetzmäßigkeiten, wie Forscher am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen herausgefunden haben.

Dirk Brockmann, Theo Geisel und Lars Hufnagel hatten vor zwei Jahren untersucht, wie sich die ansteckende Krankheit SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) durch Flugreisen infizierter Personen innerhalb von Monaten weltweit ausbreiten konnte. Im Mittelalter benötigten Epidemien mehrere Jahre, um zu einer Pandemie zu werden. Doch damals betrug die Reisegeschwindigkeit auch nur wenige Kilometer am Tag. Um heute die Ausbreitung ansteckender Krankheiten wirksamer als bisher bekämpfen zu können, muss man ein viel komplexeres Reiseverhalten berücksichtigen.

Die Göttinger Forscher haben das Reiseverhalten in den USA untersucht. Dazu benutzen sie die Datenbank „Where’s George“, deren Name sich auf George Washington bezieht, dessen Bild die Eindollarnote ziert. Die 1998 gestartete Datenbank enthält inzwischen mehr als eine Million Meldungen, wann und in welchen US-Ortschaften bestimmte Geldscheine aufgetaucht sind, die zu einigen Hunderttausenden registrierten Dollarnoten gehören. Die „Reisen“ der Dollarnoten durch die USA spiegeln das Reiseverhalten der Menschen wider, die mit diesen Geldscheine bezahlt haben. Die meisten Banknoten erwiesen sich als sehr bodenständig. Nach ihrer Registrierung tauchte mehr als die Hälfte der Scheine in einem Umkreis von zehn Kilometern wieder auf. Einige Prozent schaffen aber zwischen Registrierung und erstem Wiederauftauchen Distanzen von über 800 km.

Abb.: Die „Reisen“ der Dollarnoten durch die USA spiegeln das Reiseverhalten der Menschen wider, die mit diesen Geldscheine bezahlt haben. (Quelle: MPG)

Trägt man die Wahrscheinlichkeit P(r), dass eine Banknote innerhalb weniger Tage die Entfernung r zurückgelegt hat, gegen r auf, dann erhält man für einen Bereich von 20 bis 3500 km ein Potenzgesetz: P(r) ~ r –(1+β), mit β ≈ 0,6. Wie eine Rechnung zeigt, hat P(r) für β < 2 (also auch für 0,6) eine unendlich große Varianz <r 2> – <r> 2. Für die Reisen der Dollarnoten – und ihrer zwischenzeitlichen Besitzer – heißt das: Es lässt sich keine charakteristische Entfernung angeben, die sie typischerweise innerhalb weniger Tage zurücklegen.

Das häufige Auftreten von „Sprüngen“ über große Distanzen hinweg führte dazu, dass sich die wandernden Geldscheine über einen längeren Zeitraum betrachtet schneller ausbreiteten, als es einem Diffusionsprozess entsprechen würde. Solche super-diffusiven Prozesse, bei denen die Wahrscheinlichkeit P(r) für einen Sprung der Länge r unendlich große Varianz zeigt, bezeichnet man als „Lévy-Flüge“, deren Eigenschaften man intensiv untersucht hat.

Die Vermutung lag nahe, dass die Dollarnoten einem Lévy-Flug folgten. Doch irgendetwas schien den Lévy-Flug der Dollars zu hemmen. Angesichts der beobachteten Sprungwahrscheinlichkeit P(r) hätten sich die an einem Ort startenden Banknoten innerhalb von zwei bis drei Monaten gleichmäßig über die Vereinigten Staaten verteilen müssen. Tatsächlich waren aber selbst nach über 100 Tagen nur ein Viertel der Banknoten weiter als 800 km von ihrem Startpunkt entfernt. Die Wahrscheinlichkeit Q(t), eine Banknote nach einer Zeit t noch immer in der Nähe ihres Startpunkts zu finden, hatte ebenfalls eine unendlich große Varianz. Tatsächlich folgte Q(t) für größere Zeiten demselben Potenzgesetz wie P(r), nämlich Q(t) ~ t –(1+α), mit α ≈ 0,6. Auch für die „Wartezeiten“, die die Banknoten an einem Ort verbrachten, ließ sich kein charakteristisches Zeitintervall angeben.

Die Forscher konnten zeigen, dass sich dieses antagonistische Zusammenspiel von Reisefreude und Bodenständigkeit durch einen Random Walk mit kontinuierlicher Zeit beschreiben ließ. Die entscheidende Größe war die Wahrscheinlichkeit W(r,t), dass zur Zeit t eine Distanz r zurückgelegt worden ist. Für die Reisen der Dollarnoten erfüllte W(r,t) ein universelles Skalengesetz, in dem die beiden beobachteten Exponenten α und β auftauchten: W(r,t) t α/β = f(r/t α/β). Trägt man die skalierte Wahrscheinlichkeit W t α/β gegen die skalierte Distanz r/t α/β auf, so sollten alle Messpunkte auf eine universelle Kurve fallen. Und genau das haben Dirk Brockmann und seine Kollegen gefunden.

Das Reiseverhalten der Menschen, das sich durch die Spur der ausgegebenen Geldscheine verrät, folgt somit erstaunlich einfachen und universellen statistischen Gesetzen. Dadurch wird es möglich, realistischere Modelle zu entwickeln, mit deren Hilfe man die Ausbreitung ansteckender Krankheiten noch besser vorhersagen kann.
Rainer Scharf

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