Röntgenpionier, Erfinder und Politiker wider Willen
Vor fünfzig Jahren starb Friedrich Dessauer, der nicht nur Pionier der Biophysik und Röntgenmedizin war, sondern sich auch politisch stark engagierte.
Von der wohl aufregendsten Entdeckung seiner Jugend erfuhr Friedrich Dessauer mit 14 Jahren, im Januar 1896. Beim Mittagstisch schaute sein Vater von der Zeitung auf und berichtete dem jüngsten Sohn von einer durchdringenden Strahlung, die Wilhelm Röntgen im nahen Würzburg entdeckt hatte. „Er wusste, dass es mich interessiere, denn ich steckte ja jede freie Stunde – und manche eigentlich nicht freie – zwischen den Maschinen der großen Fabrik oder in meinem Zimmerchen, das ein wenig wie ein kleines physikalisch-technisches Kabinett aussah“, berichtete Dessauer beinahe ein halbes Jahrhundert später, als er zu einem international bekannten Pionier der Biophysik geworden war. Als einer der ersten Wissenschaftler untersuchte er systematisch die Wirkung von Röntgenstrahlen auf biologisches Gewebe.
Seine erste wissenschaftliche Arbeit über technische Verbesserungen des Röntgenapparats, den er zuhause nachgebaut hatte, verfasste der Gymnasiast mit 16 Jahren. Sie blieb zwar unveröffentlicht, gelangte aber dennoch in die Hände von Röntgen. Dieser ermutigte ihn zu weiterer Forschung. Nach dem Abitur schrieb er sich für Elektrotechnik und Physik an der TH München ein. Neben dem Studium, das ihn wegen seiner Theorielastigkeit nicht sonderlich begeisterte, versuchte er, seinen Röntgenapparat an größere Unternehmen zu verkaufen. Als die Familie nach dem plötzlichen Tod des Vaters im August 1900 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, brach der 19-Jährige sein Studium ab und gründete eine eigene Firma.
Der Jungunternehmer war davon überzeugt, dass es für seine kleinen und kostengünstigen Röntgenapparate eine große Nachfrage geben werde. Wenige Monate vor dem Tod des Vaters war Dessauers 11 Jahre ältere Bruder Hugo mit einer nicht diagnostizierbaren Krankheit ins Würzburger Krankenhaus eingeliefert worden. Friedrich reiste mit seinem selbstgebauten, transportablen Apparat dorthin, um eine Durchleuchtung am Krankenbett zu machen. Die Ärzte diagnostizierten schließlich eine tödliche Krankheit. Unter diesem Eindruck und auf Anraten des Hausarztes seines Bruders, wandte sich Friedrich Dessauer des neuen Röntgenforschung zu.
Der noch minderjährige Fabrikdirektor kämpfte hart, um sich in Fachdiskussionen und auch wirtschaftlich gegen die Verfechter der großen und teuren Röntgentechnik, die nur für Krankenhäuser erschwinglich war, einen Platz zu erobern. Wesentlich zum Erfolg seines „Elektrochemischen Laboratoriums Aschaffenburg“ (ELA) trugen die Röntgenkurse für Ärzte bei, die Dessauer mit Bernhard Wiesner, dem Hausarzt der Familie, abhielt. 1906 fusionierte das Aschaffenburger Unternehmen mit dem Frankfurter „Elektrotechnischen Institut und feinmechanische Werkstätte“ (EIF) zur VEIFA (Vereinigte Elektroinstitute Frankfurt Aschaffenburg). Um sich längerfristig am Markt behaupten zu können, investierte Friedrich Dessauer in Forschung. Er entwickelte den Röntgen-Blitzapparat, der es erstmals ermöglichte, bewegte Vorgänge im Körper über einen längeren Zeitraum zu beobachten.
Zu einem Verkaufserfolg der VEIFA wurden das Klinoskop, ein vielseitig einsetzbarer Apparat für Arztpraxen. Der „Reformapparat“ stellte nach dem Blitzapparat den Höhepunkt von Dessauers Ingenieurleistungen vor dem Ersten Weltkrieg dar. Er erdachte dafür verschiedene zusätzliche Anwendungen: So konnte er durch den gleichzeitigen Betrieb zweier Röhren, die zeitlich versetzte Lichtblitze abgaben, dreidimensionale Röntgenbilder erzeugen. Über den diagnostischen Zweck hinaus beschäftigte sich Dessauer auch mit der Entwicklung einer Röntgentherapie für tief liegende bösartige Tumore. Hier lag die Herausforderung darin, eine genügend hohe Strahlendosis in den Körper zu bringen, ohne die Haut und das darüber liegende Gewebe zu verbrennen.
Bis zum Ersten Weltkriegs hatten die VEIFA-Werke sich zu einem florierenden Betrieb mit 450 Mitarbeitern entwickelt. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nach Kriegsausbruch zwangen Dessauer jedoch im November 1916, seinen Betrieb an eine konkurrierende Firma zu verkaufen. Da er wegen seiner zahlreichen, strahlenbedingten Hautverbrennungen für kriegsuntauglich erklärt worden war, wechselte der Unternehmer nun in die Wissenschaft. 1917 promovierte der 36-jährige an der Universität Frankfurt. Sein Ziel war die Erzeugung möglichst harter Röntgenstrahlen für die Tumortherapie. Dazu konstruierte er einen Hochspannungstransformator, mit dem er Spannungen von bis zu 310000 Volt erzeugen konnte. 1920 wurde er zum Professor ernannt und gründete das Institut für Physikalische Grundlagen der Medizin. Er wandte als Erster die Quantentheorie auf die Wechselwirkung von Röntgenquanten mit der Zelle an (Quantenbiologie). Einer seiner später bekannten Schüler war Wolfgang Gentner.
Die politischen Umwälzungen nach Ende des Ersten Weltkriegs bewogen Dessauer 1918 dazu, in die von katholischen Werten geprägte Zentrumspartei einzutreten. Sein überzeugendes sozialpolitisches Engagement, gepaart mit Rednergabe und Verhandlungsgeschick, beschleunigten seine politische Karriere wider Willen und so bedauerte er oft, dass ihm Zeit für die Forschung fehle. 1919 wurde er in die Frankfurter Stadtverordnetenversammlung gewählt und 1924 zog er als Abgeordneter des Zentrums in den Reichstag ein.
Dessauers unerschrockenes Eintreten für die Demokratie führte dazu, dass die Nationalsozialisten ihn im Sommer 1933 fest nahmen und ihm den Prozess machten. Zwar wurde er im Dezember 1933 freigesprochen, aber die Universität Frankfurt ließ ihn danach fallen. Dessauer folgte daraufhin einem Ruf an die Universität Istanbul, wo er ein radiologisches Institut aufbaute. 1937 wechselte er an die katholische Universität Fribourg in der Schweiz. Zwar bot ihm die Universität Frankfurt nach Ende des Zweiten Weltkriegs an, die Leitung seines ehemaliges Instituts wieder zu übernehmen, aber Dessauer kehrte mit seiner Frau und seiner Tochter erst 1953 nach Frankfurt zurück. Zwei seiner Söhne waren inzwischen in die Vereinigten Staaten emigriert, der dritte war Hochschulpfarrer an der Universität. In den letzten drei Jahrzehnten beschäftigte sich Dessauer vor allem mit Technik- und Naturphilosophie. Bis 1960 hielt er noch jedes Semester eine Vorlesung und reiste zu vielen Vorträgen. Er starb mit 81 Jahren am 16. Februar 1963 an den Folgen seiner Arbeit mit Röntgenstrahlen.
Anne Hardy