Schall dämpfen mit phononischen Kristallen
Neuer Ansatz für die Entwicklung extrem leichter Dämmstoffe.
Kristalle können in Einwegfeuerzeugen elektrische Funken schlagen, polarisiertes Licht herstellen oder auch gebündelte Röntgenstrahlen in tausende von Einzelreflexe zerlegen, die in alle Raumrichtungen gestreut werden. Manche dieser Eigenschaften bleiben auch dann erhalten, wenn man die atomaren Kristallstrukturen hundertmillionenfach vergrößert und die Kristalle im Großmaßstab nachbaut. Dies machen sich Physiker seit einigen Jahren zu Nutze: Wenn die Originalkristalle sehr kurzwellige Röntgenstrahlen streuen, können die vergrößerten Kopien langwellige Schwingungen in alle Richtungen streuen. Ein sehr eleganter Weg für Vibrationsdämpfung ist damit gefunden. Vergrößerte Kristallstrukturen mit solchen akustischen Eigenschaften nennt man phononische Kristalle.
Andrea Bergamini und seinem Team der Abteilung Akustik – Lärmminderung des schweizerischen Forschungszentrums Empa ist es nun gelungen, Zusatzeigenschaften in die Kristalle zu integrieren, die im Original nicht vorhanden sind. Die Forscher bauten kleine, drehbare Teller in die Kristallstrukturen, die in der Lage sind, Schwingungen entlang der Längsachse in Torsionsbewegungen umzusetzen. Erstmals lässt sich eine unerwünschte Schwingung nicht nur in verschiedene Raumrichtungen streuen, sondern auch in Wärmeenergie umwandeln. In einem nächsten Schritt koppelten die Forscher mehrere der Drehteller im Kristall miteinander. Das geht auf zwei verschiedene Arten: entweder drehen alle Teller gemeinsam in die gleiche Richtung oder sie sind in ihren Drehrichtungen abwechselnd miteinander verbunden. Die Wirkung unterscheidet sich dramatisch: die syndiotaktische ABAB-Anordnung der Drehrichtung erzeugt eine Bandlücke in den Frequenzen. Ein breiter Bereich von Schwingungen wird also von der Drehmechanik verschluckt und nicht durch den Kristall hindurch weitergegeben. Demgegenüber erzeugt die isotaktische AAAA-Anordnung der Drehbewegungen neue Wellen mit ähnlicher Frequenz, die durch den Kristall weitergegeben werden. Ein mechanisches Bauteil mit bestimmter Geometrie bestimmt also darüber, ob der Kristall isoliert oder leitet.
Wie aber lassen sich solche Schwingungsfrequenz-Bandlücken nutzen? Inzwischen ist im Labor ein erstes Modell entstanden, das eine mögliche Funktion phononischer Kristalle zeigt: Bergamini baute ein Fenster aus zwei Plexiglas-Scheiben, in das syndiotaktische Drehteller integriert sind. Die Größe der Teller ist auf die Frequenz der menschlichen Sprache abgestimmt. Die Idee: wenn bestimmte Frequenzen aus der Sprache herausgefiltert werden, wird der Inhalt für Zuhörer unverständlich. Das menschliche Gehirn kann die akustischen Informationen nicht mehr zu einem Sinn zusammensetzen. Erste Tests im Akustik-Labor zeigen, wieviel Potential in der Idee steckt: Man kann die sprechenden Personen deutlich sehen und auch gedämpft hören, wer gerade spricht. Doch vom gesprochenen Text ist kein einziges Wort zu verstehen.
Bergamini und seine Kollegen erwarten, dass transparente, phononische Kristalle für Architekten und Innenarchitekten interessant sein könnten. Mit Hilfe dieses physikalischen Tricks lassen sich formfeste, steife Baustoffe herstellen, die Schall sehr gut isolieren und dabei bis zu hundertmal leichter sein können als andere phononische Isolatoren mit der gleichen Wirkung. Auch im Maschinenbau, im Flugzeugbau und im automobilen Leichtbau könnte das Herausfiltern störender Frequenzen mit leichten Designer-Dämmstoffen bald eine große Rolle spielen.
Empa / JOL